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Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
Autoren: Liao Yiwu
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der die ungewöhnlichsten Berufe, die am Rande oder außerhalb des Systems gesellschaftlicher Arbeit stehen, in einem anderen Licht erscheinen lassen, den
Totenrufer
zum Beispiel, der der amerikanischen Ausgabe den Titel gab. Liao Yiwu, der mit dem Status einer »Person ohne Aufenthaltserlaubnis« aufgewachsen ist, gibt dieser namenlosen, Millionen zählenden schweigenden Minderheit realsozialistischer Gesellschaften eine Stimme.
    Liao Yiwu, der selbst am Rande der Gesellschaft zu leben gezwungen ist, begegnet Menschen, die es »offiziell« gar nicht gibt, und er macht die, die im Dunkeln leben, sichtbar. Die Welt des Maoismus war schlicht und einfach; die Gesellschaft wurde von der eisernen Reisschüssel zusammengehalten; zu essen sollte es für alle geben, der Schritt vom Elend in die Armut war das Nahziel der Partei. Zur Schande der Partei war dies zehn Jahre nach der Eroberung der politischen Macht 1949 nicht erreicht, sondern durch den Lehrmeister Hunger zwischen 1959 und 1962 in Frage gestellt. Die chinesische Gesellschaft ist traditionell sensibel für Verteilungsgerechtigkeit; der Vergleich auf dem untersten Existenzniveau lässt die gesellschaftlichen Unterschiede umso schärfer hervortreten. In der 1966 beginnenden Kulturrevolution versuchte Mao nach den Fehlschlägen früherer Kampagnen das Heft des Handelns durch eine neue Massenmobilisierung wieder in die Hand zu bekommen; die sogenannte Maobibel popularisierte seine Ideen weltweit. In den Händen der Roten Garden wurde dieses rote Büchlein zu einer gefährlichen Waffe. Mao benutzte die mit Hilfe seiner »Ideen« mobilisierten Massen im Machtkampf gegen die als Bürokraten diffamierten Autoritäten. Dieser Machtkampf wurde als Fortsetzung des Klassenkampfes legitimiert, der die soziale Revolution in China herbeigeführt hatte. Um das Instrument der »Mao-Ze-Dong-Ideen« zu schaffen, musste die Marxsche Theorie einem fundamentalen Wandlungsprozess unterworfen werden. Aus einer revolutionären Theorie, die eine entwickelte kapitalistische Produktionsweise unter dem Aspekt ihrer Veränderbarkeit beschreibt, musste eine Ideologie gemacht werden, die nachrevolutionäre Herrschaftsverhältnisse legitimiert und die Intensivierung gesellschaftlicher Zwangsarbeitsverhältnisse begründet. Der sowjetisch geprägte Marxismus-Leninismus hatte diesen Funktionswandel des Marxismus fast gleichzeitig mit dem Beginn des »Aufbaus des Sozialismus in einem Lande« seit 1927 vorexerziert – in einer Zeit, in der Mao sich gegen die Kominternstrategie des bewaffneten städtischen Aufstands mit einer bäuerlichen Massenbewegung zu behaupten wusste. Die Argumentation dieser, einer neuen Strategie bahnbrechenden Schriften wie »Bauernbewegung in Hunan« setzte eine Sinisierung des Marxismus voraus, die in den Realtäten der chinesischen Agrargesellschaft verankert war. Nur aus diesem Grund ist das Paradox verständlich, dass nach dem weltweiten Zusammenbruch des Realsozialismus in China eine kommunistische Hülle übrig blieb, die einen realen kapitalistischen Wachstumskern ummantelt.
    Der Lehrmeister Schande hat Liao Yiwu beigebracht, mit dem Makel einer nichterwünschten Klassenherkunft zu leben. Die Verwandlung gesellschaftskritischer Kategorien in politische Existentialurteile hat der Autor schmerzhaft am eigenen Körper zu spüren bekommen. In der Kulturrevolution wurde das Ressentiment gegen geistige Arbeit, das jeder agrarischen Gesellschaft inhärent ist, in ein Instrument des politischen Machtkampfes verwandelt. Der Antiintellektualismus, der als intellektueller Selbsthass von vielen westlichen Maoisten geteilt wurde, wurde durch Klassifizierungen, die der Marx’schen Sprache ähneln, legitimiert. Benutzt wurden in der Kulturrevolution Techniken der Massenmobilisierung, die in den Agrarkampagnen während der sozialrevolutionären Phase der chinesischen Revolution in den dreißiger und vierziger Jahren erfolgreich erprobt waren. Der Amerikaner William Hinton hat mit »Fanshen« eine eindrucksvolle »Dokumentation über die Revolution in einem chinesischen Dorf«, im Jahre 1948 in der Provinz Shansi, hinterlassen. Wer dieses erschreckende achthundertseitige Buch [137] gelesen hat, ist auf Liao Yiwus Gespräch mit dem
früheren Grundbesitzer
gut vorbereitet. Die Mobilisierung des »Volkszorns«, eine Kategorie, die Mao bewusst verwendet, geschieht nicht wegen einer völlig konträren gesellschaftlichen Interessenlage oder schwerer Vergehen an Mitbürgern, sondern wegen
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