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Flut

Flut

Titel: Flut
Autoren: Daniel Galera
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Ich verzeihe dir dafür, dass du mich hast weggehen lassen und dir selbst einen Zettel geschrieben hast, statt mit mir zu reden. Bist du unfähig zu verzeihen?
    Ich will nicht, dass du mir verzeihst.
    Ich verzeihe dir aber trotzdem.
    Das nehme ich nicht an. Ich weigere mich, dass man mir verzeiht.
    Ha! Wie genial. Das ist wirklich das Allerbeste.
    Was ich falsch gemacht habe, trage ich mit mir herum. Nichts verschwindet einfach so, nur weil wir es beschließen, weil wir es wollen. Keiner kann mich von dem Leid befreien, dass ich anderen angetan habe. Man muss es in sich behalten, um ein besserer Mensch zu werden. Verzeihen heißt, so zu tun, als würde es nicht existieren. Aber das Leben ist das Ergebnis unserer Handlungen. Es ist sinnlos, sich so zu verhalten, als wäre etwas nicht geschehen.
    Nicht deswegen verzeiht man! Du bist ja verrückt! Verzeihen heißt, den anderen von der Schuld zu befreien. Und damit auch sich selbst zu befreien. Man tut deswegen nicht so, als wäre etwas nicht passiert. Es ist ein Geschenk, man gibt sich dem anderen hin. Es ist eine Entscheidung, die man trifft. Das erfordert Mut, aber es lohnt sich.
    Es ist keine Entscheidung. Es gibt keine Entscheidungen.
    Nein?
    Im Grunde nicht.
    Wenn das so ist, warum der Groll? Warum grollen, wenn niemand überhaupt Entscheidungen trifft? Wenn wir alle nur dem Schicksal gehorchen, kann doch keiner für das verantwortlich gemacht werden, was er tut. Nicht wahr? Alles, was ich getan habe, was du getan hast, was dein Bruder getan hat, ist nichts anderes als Schicksal. Es gibt nichts zu verzeihen, weil niemand schuldig ist.
    Aber es ist so. Niemand kann es sich aussuchen, aber trotzdem hat jeder die Verantwortung. Es ist so. Ich kann dir nicht erklären, warum. Mir fehlen die Worte. Vielleicht findest du sie.
    Ich finde die Worte, aber was du sagst, ist unlogisch. Es ist absurd. Entweder es gibt einen freien Willen oder es gibt ihn nicht. Wenn der Mensch ein frei handelndes Individuum ist, wenn wir also eine Wahl haben, dann können wir auch verantwortlich gemacht werden. Wenn das nicht so ist und das Universum durch die Naturgesetze vorherbestimmt ist und jedes Ereignis zwangsläufig aus einem anderen hervorgeht, dann ist niemand schuld an dem, was er tut. Dann haben weder Groll noch Vergebung einen Sinn.
    Wittgenstein.
    Ach, komm mir nicht mit Wittgenstein! Du weißt genau,wovon ich rede. Ich weiß, dass du intelligenter bist, als du bei deinen Selbstmitleidsanfällen zugeben magst.
    Wie heißen die beiden Alternativen nochmal?
    Freier Wille und Determinismus.
    Ich glaube nicht, dass es so simpel ist.
    Das ist überhaupt nicht simpel.
    Was ich meine, ist, dass mir beide Alternativen falsch vorkommen. Oder sie sind beide richtig. Zwei richtige Antworten auf die falsche Frage.
    Meine Güte. Was ist denn die richtige Frage?
    Weiß ich nicht.
    Das ist doch dieselbe ausweglose Diskussion, die wir schon tausend Mal geführt haben. Anderes Thema, aber im Prinzip immer das Gleiche. Und keiner gewinnt.
    Ich weiß nur, dass wir uns nicht frei entscheiden können, aber trotzdem so leben müssen, als könnten wir es.
    Ich glaube, jetzt sag ich gleich mal Wittgenstein. Darf ich das eigentlich auch?
    Und deswegen ist Verzeihen sinnlos. Verzeihen ist feige. Was Mut verlangt, ist, weiter zu lieben, Freundschaften zu schließen, anderen Gutes zu tun, ohne zu verzeihen und ohne dass einem verziehen wird, ohne so zu tun, als könne man irgendetwas auslöschen. Du sagst, Dante ist wütend auf unseren Vater, weil er sich umgebracht hat. Wozu? Ich finde, es war eine Riesenscheiße von ihm, sich umzubringen, und ich verzeihe ihm nicht, aber er hat mir gesagt, dass er keine Wahl hatte, und in gewisser Hinsicht hatte er die auch nicht, so viel hab ich inzwischen verstanden. Ich bin auf überhaupt niemanden wütend. Warum sollte ich? Bis zu jenem Moment war er gut zu uns. Wenn man zurückschaut, ist alles unvermeidlich.
    Hat dein Vater dir erzählt, dass er sich umbringen würde?
    Als er nicht antwortet, hält sie sich die Hand vor den Mund.
    Viv, nichts in mir ist in der Lage, meinem Bruder für das, was er getan hat, zu verzeihen. Es ist nicht so, dass ich eswollte und nicht kann. Ich will es nicht. Es wäre falsch. Er hat sich im Grunde nicht dafür entschieden, zu tun, was er getan hat, so wie sich auch sonst niemand für irgendetwas entscheidet, aber das befreit ihn nicht von der Verantwortung, dich nach São Paulo eingeladen zu haben, obwohl er wusste, dass ich nicht
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