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Flut

Flut

Titel: Flut
Autoren: Daniel Galera
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ihr möglichst lange geduldig zuzuhören, sie vielleicht sogar anzuspornen, um schließlich völlig willkürlich den Namen Wittgenstein ins Spiel zu bringen, was bedeutete, dass er ihr schon lange nicht mehr folgen konnte.
    Ich weiß, wer Obama ist. Ich wusste nur nicht, dass er die Wahl gewonnen hat, und ich kapier nicht, warum du auf einmal von deinem neuen Telefon redest.
    Du hast mich nach meinem Leben in São Paulo gefragt,und da hab ich angefangen zu reden und bin vom Hundertsten ins Tausendste gekommen, tut mir leid. Ich bin etwas nervös. Glaubst du, für mich ist es einfach, hier zu sein?
    Nein, natürlich nicht. Ich weiß auch nicht so recht, was ich sagen soll.
    Sie trinkt einen Schluck Kaffee und deutet mit dem Kopf zur Seite.
    Ich hab dir ein Geschenk mitgebracht.
    Soll ich es jetzt aufmachen?
    Sie nickt. Er steht auf, holt ein Brotmesser aus der Küche, nimmt sich das bilderrahmenförmige Paket und setzt sich wieder aufs Sofa. Er zerschneidet den Bindfaden und zerreißt das Packpapier, bis ein Teil eines großen gerahmten Porträts zum Vorschein kommt.
    Das ist dein Vater, erklärt Viviane umsichtig, bevor er sich diese Frage stellen muss.
    Er packt das Bild aus. Es ist die fast einen Meter hohe Vergrößerung eines Schwarz-Weiß-Fotos. Jede Pore, Falte und Wimper ist deutlich sichtbar. Sein Vater lächelt, das Foto zeigt ihn vom Scheitel bis zur Brust, im weißen Oberhemd. Im Hintergrund sieht man verschwommen Pflanzen und Häuser. Er kann nicht erkennen, wo das Foto gemacht wurde.
    Das Bild ist entstanden, als wir zum Shoppen nach Jaguarão an die Grenze gefahren sind. Erinnerst du dich? Ich glaube, es war das erste Mal, dass wir mit ihm irgendwohin gefahren sind. Er wollte Whisky und Zigarren kaufen und hat uns mitgenommen. Du hast dir da diese Ray-Ban-Brille gekauft.
    Ja, ich erinnere mich.
    Das war noch die alte Kamera, mit der ich auch während des Studiums fotografiert hab. Ich hab immer noch alle Negative.
    Mit zugeschnürter Kehle schaut er sich das Porträt an.
    Gefällt’s dir?
    Ja. Sehr. Wirklich sehr.
    Ich dachte mir, du hast bestimmt viele Fotos von ihm, aber dieses hier ist besonders schön, und der Fotoladen bei uns um die Ecke macht sehr gute Vergrößerungen.
    Es ist toll geworden. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, Viv. Danke.
    Ich hoffe, es gefällt dir.
    Er sieht hoch und trifft auf Vivianes glänzenden Blick. Sie hat die Hände ineinander verschränkt, als wollte sie sich die Finger zerquetschen. Verlegen wie eine Frau, die gerade jemandem ihre Liebe gestanden hat. Er stellt das Bild gegen die Sofalehne und springt fast gleichzeitig mit ihr auf.
    Ich hab die Tasse umgeworfen, flüstert sie ihm ins Ohr.
    Egal.
    Kaffee gibt Flecken.
    Macht nichts.
    Sie halten sich in den Armen, bis ihre Körper vor Anspannung erschlaffen und sie auseinandergehen. Sein Herz schlägt wie wild. Er hebt die Kaffeetasse vom Teppich auf, und sie sagt, sie gehe ins Bad. Die Möwen ziehen schreiend ihre Kreise über der Bucht, zwei Fischerboote kehren vom morgendlichen Fang zurück. Beta spitzt die Ohren, steht auf und läuft vor die Tür.
    Die Badezimmertür wird geöffnet. Viviane geht an ihm vorbei, stellt sich ans Fenster und blickt aufs Meer. Er setzt sich wieder aufs Sofa und stellt sich ihr Gesicht vor, während er ihre langen Beine und die schwarzen Haare betrachtet, die bis zur Mitte des Rückens hinabreichen und, obwohl sie regungslos dasteht, scheinbar in Bewegung sind, das Zauberwerk irgendeines Friseurs. Wenn sie sich nicht gleich umdreht, wird alles wieder verschwimmen.
    Bist du nur gekommen, um zu sehen, wie es mir geht, oder wolltest du mir etwas sagen?
    Sie dreht sich um.
    Ich bin schwanger. Du wirst Onkel.
    Seit wann weißt du das?
    Seit zwei Monaten. Ich bin in der fünfzehnten Woche. Es wird ein Junge.
    Herzlichen Glückwunsch. Das freut mich für dich.
    Ehrlich?
    Na klar, Viv. Du bist doch glücklich, oder? Du wolltest doch ein Kind.
    Ja.
    Dann bin ich auch glücklich. Ich kann das trennen. Ich wusste, dass es irgendwann passieren würde. Genauso wie ich wusste, dass du eines Tages zu mir kommen würdest, um es mir zu sagen. Erinnerst du dich an den kleinen Zettel, den du mal für mich unterschrieben hast?
    Was für ein Zettel?
    Bevor du zu ihm nach São Paulo gezogen bist. Als wir noch zusammen waren. In dem Café in Moinhos de Vento.
    Ich erinnere mich an keinen Zettel.
    Du hast das Datum und deine Unterschrift draufgesetzt, und dann habe ich etwas dazugeschrieben.
    Ich weiß
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