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Flut

Flut

Titel: Flut
Autoren: Daniel Galera
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vorbei, egal, ob es regnet, Nordostwind bläst oder was auch immer. Wie heißt du?
    Aírton. Soll ich dir was dafür bezahlen?
    Ach was. Schreib dir meine Nummer auf.
    Nachdem Aírton gegangen ist, kommt die Wäscherin vorbei, danach geht er mit Beta am Strand spazieren. In Gedanken ist er noch bei dem Rettungsschwimmerkurs, als ihm plötzlich eine Geschichte einfällt, die ihm jahrelang durch den Kopf gegangen und dann irgendwann verschwunden war, zumindest bis jetzt. Er hatte sie sich mit zirka zwölf Jahren ausgedacht und dann immer weitergesponnen. Es war nur ein skizzenhafter Tagtraum, der niemals zu einem nennenswerten Ende kam, aber jedes Mal gleich begann. Er saß am Strand mit Blick auf das Wasser und sah jemanden weit draußen im Meer um Hilfe rufen. Als er hinter der Brandung war, stellte er fest, dass es ein Mädchen in seinem Alter war, das in seiner Vorstellung von Jahr zu Jahr mit ihm älter wurde. Er zog sie aus dem Meer, sie spuckte Wasser und lag dann erschöpft und schnaufend im Sand. Manchmal war sie richtig bekleidet, manchmal trug sie nur einen Bikini. Ihre Haut war jedes Mal ganz weiß, die Haare schwarz, glatt und lang. Und sie hatte blaue Augen. Es war immer dasselbe Gesicht, aber niemand, den er kannte oder später kennenlernte sollte. Nachdem sie sich erholt hatte, stand sie auf, bedankte sich mit einer Umarmung oder einfach nur mit einem Wort und einem Blick und lief weg, ohne sich nochmal umzusehen, er sah ihre schlanken Arme baumeln, bis sie irgendwo in den Dünen verschwand. Dann vergingen Monate, manchmal Jahre. Er stellte sich vor, dass er älter war als in Wirklichkeit. Die Zeitspannen konnten stark variieren, aber immer traf er das Mädchen wieder, und jedes Mal ging es ihr schlecht. Die Männer hatten ihr übel mitgespielt, oder sie war ein Junkie, eine Selbstmörderin, eine hilflose Waise. Und immer weinte sie. Die Haare klebten an ihren nassen Wangen. Sein älteresIch hatte sie all diese Monate oder Jahre über gesucht und sich gefragt, wer sie war, warum sie dort draußen im Meer geschwommen und wohin sie danach gegangen war, und jetzt tauchte sie auf einmal wieder auf, und er liebte sie. So einfach war das. Wen konnte man leichter lieben als eine Frau, die keinen Namen hat, die man sich ausgedacht hat, die das Schicksal zu einem führt, verletzlich und sinnlich, damit man sie rettet, woraufhin sie verschwindet und schließlich wiederauftaucht. Aber diese Frau hasste ihn. Manchmal beschuldigte sie ihn, sie gegen ihren Willen gerettet zu haben. Wieso hast du mich aus dem Wasser geholt? Niemand hat dich darum gebeten. Oder sie warf ihm vor, sie verlassen zu haben. Wie konntest du mich verlassen? Wie konntest du mich gehen lassen? Aber ich habe dich doch gerettet, verteidigte er sich. Sie schüttelte den Kopf. Warum hast du mich nicht nach meinem Namen gefragt? Warum hast du nicht meine Hand gehalten? Warum bist du nicht hinter mir her gelaufen? Warum hast du mich gehen lassen? Du wolltest mich nicht. Er fand das schrecklich ungerecht. Wie hätte er das wissen sollen? Er hatte getan, was getan werden musste. Er hatte alles getan, was getan werden konnte. Wie ungerecht von ihr, nach so langer Zeit zurückzublicken und ihm vorzuwerfen, sich damals so und nicht anders verhalten zu haben. Hatte sie denn vergessen, wie sie ohne ein Wort davongelaufen war? Manchmal lag eine sexuelle Spannung in diesen Auseinandersetzungen, manchmal herrschte pure Verzweiflung. Darauf lief es immer hinaus, auf die Ungerechtigkeit im Blick zurück. Sich eine andere Vergangenheit vorzustellen als die, die uns an den Punkt gebracht hat, an dem wir uns jetzt befinden. Über Jahre hinweg malte er sich immer neue Varianten dieser Geschichte aus. Und jedes Mal war er am Ende allein. Er hatte nie daran gedacht, sie jemandem zu erzählen, sie aufzuschreiben oder zu zeichnen. Warum diese Geschichte? Warum überhaupt eine Geschichte? Woher kam sie, und wo war sie all diese Jahre gewesen?

13.
    Er sieht ein Paar graugrüner Augen, fleischige Wangen, die um ein erwartungsvolles, perlweißes Lächeln Grübchen bilden. Hellbraune Haut und dicke, aufgesprungene Lippen in beinahe derselben Farbe, nur etwas rosiger. Er erkennt den Ring in einem der Nasenlöcher und die kleine Narbe auf der Stirn, aber an das ganze Gesicht kann er sich nicht erinnern. Lange schwarze Haare, die auf die Schultern fallen. Sein Blick erfasst zwischen zwei Atemzügen alle vier Quadranten des Gesichts, und er hätte schwören können, diese Frau
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