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Flut

Flut

Titel: Flut
Autoren: Daniel Galera
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haben sich Sorgen gemacht. Vor allem nach dem ganzen Regen und den Überschwemmungen. Und dann hört man auf einmal nichts mehr von dir. Hat es hier schwere Schäden gegeben?
    Hier nicht, nein.
    Ich hab dauernd im Fernsehen gesehen, wie viele Menschen umgekommen sind. Es soll das schlimmste Hochwasser in der Geschichte von Santa Catarina gewesen sein. Die Straße war eine einzige Katastrophe. Gut, dass es dich nicht getroffen hat.
    Er hört Beta aus dem Schlafzimmer tapsen.
    Guck mal, Beta, wer da ist. Die kennst du.
    Die Hündin humpelt auf ihn zu. Sie blickt kurz zu Viviane, schnuppert ein bisschen, kommt aber nicht näher.
    Sie wurde angefahren, aber jetzt geht’s ihr wieder gut.
    Viviane schnippt mit den Fingern und macht ein paar halbherzige Geräusche, um Beta anzulocken, aber die Hündin rührt sich nicht. Beide sehen sie stumm zu ihr rüber. Einen Moment lang ist alles wie eingefroren. Der Wasserkessel fängt an zu pfeifen.
    Wie geht es dir?
    Gut. Mein Gesicht ist etwas lädiert, aber schlimmer war eigentlich die Lungenentzündung, und die ist überstanden.
    Ich meinte, was deinen Vater betrifft.
    Ach so. Das ist okay. Er fehlt mir, ganz normal.
    Ich wollte zur Beerdigung kommen, aber ich hatte gerade den neuen Job angefangen und konnte nicht weg.
    Das hast du mir ja am Telefon erklärt. Du musst dich dafür überhaupt nicht rechtfertigen. Es ist wirklich alles in Ordnung. Das ist vorbei. Dass ich Beta behalten habe, hat mir dabei geholfen. Ich denke an ihn, und es macht mich traurig, aber wir hatten uns in der letzten Zeit sowieso kaum noch gesehen, weißt du? Er war ziemlich am Ende. Aber er hatte eingutes Herz. Das ist mir nach seinem Selbstmord noch deutlicher geworden. Auf seine merkwürdige Art war er immer gut zu allen. Im Grunde hat er es uns nie an etwas fehlen lassen. Ich weiß noch, wie er mir in den Nacken griff, um mir irgendwelche Ratschläge zu erteilen. Mein Vater wusste immer, was er tat. Er entschied sich schnell und zweifelte nicht am eingeschlagenen Weg. Er hat eine Entscheidung getroffen.
    Dante war sehr wütend darüber. Er kann es nicht akzeptieren.
    Das ist sein Problem.
    Er geht zurück in die Küche und gießt das kochende Wasser in den Kaffeefilter.
    Außerdem hat er sich geärgert, dass er dich beim Begräbnis nicht gesehen hat. Du warst ja sofort wieder weg, oder? Ihr habt euch verpasst.
    Wir haben uns nicht verpasst. Ich bin absichtlich gegangen, bevor er kam. Dante kann sich ins Knie ficken. Und ich hab jetzt keine Lust, über ihn zu reden.
    Der Geruch von Kaffee erfüllt den Raum, draußen vor dem Fenster schlagen Wellen gegen die Felsen. Er kommt mit zwei Tassen zurück, reicht Viviane eine und setzt sich auf das Sofa gegenüber. Sie ist wunderschön. Er hat ihr beim Kaffeekochen nicht lange genug den Rücken zugewandt, um ihr Gesicht schon wieder vergessen zu haben. Als sie noch zusammenlebten, versuchte er manchmal heimlich herauszufinden, wie lange er das Gesicht der Frau, die er liebte, im Gedächtnis behalten konnte, oder sie oft genug anzusehen, um sich einen ganzen Morgen oder Tag lang daran zu erinnern. Anfangs fiel ihm das leicht, dann wurde es schwieriger, und irgendwann hatte er keine Lust mehr dazu, aber jetzt, als er sie nach zwei Jahren zum ersten Mal wiedersieht, ergibt das Spiel neuen Sinn. Er beschließt, es auszuprobieren. Er wird sie nicht aus den Augen lassen. Solange sie da ist, darf er ihr Gesicht nicht vergessen. Sobald sie durch diese Tür gegangen ist, wird er ihr Gesicht im Kopf behalten und sich gleichzeitigdaran erinnern, wie sie sich im Schwimmbad, in dem er unterrichtete, kennenlernten, wie sie im schwarzen Badeanzug und blauer Badekappe mit ihrem großen, kräftigen Körper unbeholfen durch das Becken schwamm und dann zum Beckenrand, um Luft zu holen, ein Gespräch mit ihm anzufangen und sich von ihm auf ein Bier einladen zu lassen. Das mit Büchern vollgestopfte Haus ihrer reichen Eltern, bei denen sie wohnte, bevor sie mit ihm in eine abscheuliche Wohnung in der Unterstadt zog, inmitten von lauten Bars und gestörten Nachbarn. Ihr Gesicht beginnt zu verschwimmen, aber die Erinnerungen an das Leben mit ihr bleiben. Wie sie das erste Mal zusammen über Weihnachten auf einem leeren Campingplatz am Strand zelteten. Wie sie an dem einsamen Strand vor Kälte zitternd aus dem Wasser kam, ohne zu merken, dass zwischen ihren Schenkeln Blut runterlief, und sie sich dann vor Scham wand, als er es ihr sagte. Wie sie im klammen, stickigen Zelt mit dem
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