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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche
Autoren: Monika Maron
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dem Betonklotz, in dem sie ihre Tage zubrachte. Kahlköpfige junge Mädchen mit großen Ringen in den Ohren, die sie auch nachts nicht ablegten, wie die Bildunterschrift mitteilte, blickten neugierig durch die Kamera in Josefas Augen. Eine Frau, an den großen hängenden Brüsten ein Kind, dessen Bauch gedunsen war. Wer weiß, wieviel Kinder die Frau geboren hatte und wie viele davon noch lebten und woran die anderen gestorben waren. Ein Kind, das Gesicht voller Fliegen. Bilder, die Josefa kannte, die sie so oder ähnlich schon gesehen hatte. Alle mit europäischen Augen gesehen, mit Präzisionskameras geknipst, Fremdartigkeit vorführend; selten, versehentlich nur, Verwandtes. Mit den Müttern fühlte sich Josefa verwandt. Alle Mütter ähneln sich. Sie haben die gleichen Hände, wenn sie ihre Kinder darin halten, ruhige, lockere Hände, die Finger leicht gespreizt, um den kleinen Körper zu bedecken. Josefa überlegte, wer sie wäre in einem Bildband über Europa, welche Gedanken dem unkundigen Fremden beim Betrachten ihres Bildes kommen müßten. Aber wie hätte man sie für solchen Zweck fotografieren müssen? Josefa mit Kind. Oder Josefa am Schreibtisch. Oder Josefa am Schreibtisch, das Kind auf dem Schoß. Das käme der Wahrheit am nächsten, könnte aber falsche Vorstellungen über die Arbeitsbedingungen in einer Industriegesellschaft vermitteln. Josefa entschied sich für ein Bild mit Kind, schwarzweiß auf stumpfem Papier. Wie nähme sie sich aus neben den kahlköpfigen lachenden Mädchen, neben der Mutter mit dem ergebenen Blick? Glücklicher oder unglücklicher, anders oder ähnlich? Die reiche, leider schwindsüchtige Verwandte. Des Königs Töchterlein, in dunklen Gelassen vor der Sonne geschützt, das sehnsüchtig über seinen gestutzten Park hinweg auf die Straße sieht, wo die armen, zerlumpten Kinder Versteck spielen.
    Beim Anblick der Bilder befiel sie der gleiche, nur zögernd eingestandene Neid, den sie als Kind der Großmutter Josefa gegenüber empfunden hatte, wenn die Mutter ihr von der schweren Kindheit der Großmutter erzählte und Josefa sich auf eine grüne Wiese wünschte, zwischen viele gelbe Butterblumen, barfuß, neben sich die kauende Kuh und die schlafenden Zwillinge. Etwas auf den Bildern erregte ihren Neid oder ihre Sehnsucht, die Josefa zugleich leichtfertiger Sentimentalität bezichtigte. Als wüßte sie nichts von Hungersnöten, Proteinmangel, Amöben, Säuglingssterblichkeit, Seuchen. Trotzdem war etwas im Blick dieser Mädchen, in ihren durchgedrückten Rücken, in der Art, in der sie ihre nackten Brüste trugen, das jede zivilisatorische Besserwisserei Lügen strafte und das Josefas Verdacht nährte, diese kahlköpfigen beringten Mädchen seien glücklicher als sie. Am Nachmittag hatte sie auf ihrem Schreibtisch den hellgrünen Zettel gefunden, auf dem ihr Rassows Staatsgeheimnis nackt und amtlich zur Kenntnis gegeben wurde: »Die Parteileitung sieht sich veranlaßt, dein Verhalten in der Mitgliederversammlung zur Sprache zu bringen.«
    »Daran bist du selbst schuld«, sagte Luise. Und als Josefa Rudi Goldammer auf dem weißen Gang traf, legte er seinen Arm um ihre Schulter, wiegte den Kopf und seufzte, ›joijoi‹. Josefa fand, daß Rudi mit seinen herabhängenden Mund- und Augenwinkeln aussah wie ein bleicher trauriger Clown. »Da hast du uns aber was eingebrockt«, sagte er.
    »Es tut mir leid«, sagte Josefa.
    »Jaja«, sagte Rudi, drückte seine Hand fest um Josefas Schulter, »naja, wird schon werden.«
    Dann ließ er den Arm langsam, wie zufällig von Josefa abgleiten, »wird schon werden«, lächelte müde und ging in sein Zimmer.
    Zum zweiten Mal an diesem Tag hatte Josefa Lust, einfach zu gehen und nicht mehr zurückzukommen. Der Gang, das Klappern der Schreibmaschinen und das Klingeln der Telefone hinter den Türen, der glänzend gebohnerte Fußboden, das Schild ›Vorsicht! frisch gebohnert‹ kamen ihr künstlich vor und lächerlich, eine monströse, zugleich kärgliche Filmkulisse, die Wände aus Pappe, Geräusch vom Band. Und was ihr denn leid tun sollte, dachte sie. Es tat ihr nichts leid, aber das war ihr Text in diesem Film. Wenn Rudi aussah wie ein trauriger Clown, hatte sie zu sagen: es tut mir leid. Irgendwann mußten sie ihre Rollen in dem Stück vereinbart haben, mußten sie als endgültig angenommen haben.
    Warum sonst hätte sie sagen müssen: Es tut mir leid?

IV.
    Jetzt mußte sie nie mehr sagen, daß ihr etwas leid tat. Rudis trauriges Gesicht ging
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