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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche
Autoren: Monika Maron
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tief ins Unterbewußtsein sinken lassen, das stabilisiert ungemein.«
    »Was läßt du sinken«, fragte Josefa, »deine Kreativität?«
    »Die Gedanken«, sagte Jauer, »sozusagen das reflektierte Bewußtsein ins Unterbewußtsein. Du verdrängst sie nicht, sondern du machst sie dir ganz und gar zu eigen. Du entäußerst dich deiner Gedanken nicht mehr. Du schluckst sie, du ernährst dich sozusagen von ihnen, und das Unterbewußtsein ist eine Art Verdauungsorgan. Es wahrt ständig das Gleichgewicht zwischen dir und deinen Gedanken, die, wenn du sie nicht äußerst, auch nie mehr in ihrer Urform auf dich zurückkommen können, sondern nur verdaut, durch das Unterbewußtsein verarbeitet.«
    »Und das geht?«
    »Training«, sagte Jauer, »nur Training.«
    Rassow sagte, er wolle das unbedingt ausprobieren, im Sommer beim Angeln wolle er anfangen.
    »Das wichtigste ist: die Gedanken nicht äußern, sondern sich von ihnen ernähren. Wenn du das schaffst, kommt der Rest von allein.«
    Josefa stand auf. »Ich muß mal telefonieren.« Jauers Frühstückskurse über psychotherapeutische Experimente langweilten sie. Manchmal hielt sie ihn für verrückt. Er war dicker, konnte schlafen, seine Hände zitterten nicht mehr, aber er war verrückt.
    Sie überlegte, wohin sie gehen wollte, wippte langsam, Stufe für Stufe, die Treppe hinunter. Auf dem Treppenabsatz blieb sie stehen, lehnte die Stirn gegen die kalte Glaswand, dann den ganzen Körper. Wenn sie bricht, falle ich, dachte sie, ohne Angst zu fühlen. Durch das Glas roch sie die staubige Luft, die in der Sonne von den Straßen aufstieg, hörte sie, wie die winzigen Menschen unter ihr lachten und sprachen. Ich bin lange nicht mehr geflogen, dachte sie und wollte an der Fahne, die auf einem der hohen Gebäude wehte, prüfen, aus welcher Richtung der Wind kam. Aber die Fahne hing schlaff und lappig am Mast. Unruhige Sehnsucht stieg in Josefa auf. Sie schloß die Augen, suchte ein Bild, aber es blieb schwarz hinter den Lidern. Sie atmete tief ein, um die Unruhe zu unterdrücken. Liebe, dachte sie, ich will Liebe. Eine andere Liebe als die zu Christian oder zum Kind. Keine erschöpfte, ewig müde Liebe, eine, in der man leben konnte, die für alle reichte, ich will alle lieben, und alle sollen mich lieben.
    Als sie sich von der Glaswand löste, hatte sie das Gefühl, sie stünde in einem Käfig: rechts und links massive Mauern, einsehbar von vorn, der Rückzug nur möglich nach hinten über die Treppe. Sie ging weiter, tiefer, vorbei an der Illustrierten Woche, Stufe für Stufe, langsam, weil sie immer noch nicht wußte, wohin sie gehen wollte. Bloß keine Sentimentalitäten, dachte sie, Liebe für alle, das gab es schon, als Nächstenliebe. Und die meinte sie nicht. Was sie meinte, war einfacher, ganz einfach sogar: sie war heute morgen aus dem Haus gegangen, ein blonder Junge auf einem Monster hatte für sie die Straße gesperrt und hatte ihr gewinkt. Sie hatte zurückgewinkt. Es war Frühling, und sie hatte an Veilchenwasser denken müssen. Dann war sie in dieses Haus gekommen, hatte von Rassow etwas über Strutzer erfahren, hatte weiterhin Jauers Vorträge über sich ergehen lassen und hatte darüber den Jungen vergessen und den warmen Tag und daß es jetzt bald Sommer wurde. Und sie hatte das nicht vergessen wollen. So einfach war das.
    An diesem Tag hatte sie zum ersten Mal daran gedacht, das erdbebenfeste Haus einfach und für immer zu verlassen, die sechzehn Stockwerke runterzulaufen; wenn sie endgültig ginge, würde sie laufen, dachte sie. Sie könnte einen Brief schreiben, darin ihren Entschluß höflich erklären und ebenso höflich um die Zusendung ihrer Unterlagen bitten. Sie hatte auch daran gedacht, das am gleichen Tag zu tun, der ihr geeignet schien für schwerwiegende Entscheidungen. Dabei war sie die Treppen abwärts gelaufen, bis ihr schwindlig geworden war. In der dritten Etage ging sie in die Bibliothek und verlangte einen Bildband über Afrika.
    Die Bibliothekarin hatte sich gewundert. Alle wollten in der letzten Zeit Bücher über Afrika, was denn nur los sei, hatte sie gefragt. Josefa war mit dem Fahrstuhl in die sechzehnte Etage gefahren, ohne noch einmal daran zu denken, daß sie das Haus hatte verlassen wollen. Sie hatte lange in dem Buch geblättert, jedes Detail auf den farbigen blanken Bildern begutachtet, als müsse sie sich davon überzeugen, daß es etwas gab auf der Welt, das nichts zu tun hatte mit der Illustrierten Woche, mit Strutzer und mit
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