Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche
Autoren: Monika Maron
Vom Netzwerk:
sie nichts mehr an. Er mußte sich einen Neuen suchen, dem alles leid zu tun hatte, einen brauchten sie für die Rolle, schon wegen der anderen, wegen Jauer und Rassow und Schütz, die auf diese Weise erfahren konnten, daß sie nichts zu bedauern hatten, daß ihnen nichts leid tun mußte. Aber wenigstens einmal, heute, in einer Stunde, wollte Josefa sie den Verlust spüren lassen. Heute würden sie auf das beruhigende Gefühl, besser, pflichtbewußter, vernünftiger zu sein als sie, verzichten müssen. Heute konnten sie den Satz ›Es müßte ihr leid tun‹ gegen alle vier Wände rufen, bis sie heiser wurden, es würde nur ihr eigenes Echo sein, das auf sie zurückfiel, leer und unbestätigt.
    Aber an diesem Tag, der mit dem rotbehemdeten Jungen auf dem Monster und mit ihrem Appetit auf Günter Rassows Tulpen begonnen hatte, war sie geblieben. Auch am nächsten Tag und am übernächsten war sie wiedergekommen. Sie hatte Materialien gesichtet und abgeheftet, hatte telefoniert und an Versammlungstischen gesessen.
    Sie hatte an Brommel mit dem dicken Katerkopf denken müssen, wie er, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, nach dem Bazillus Zweifel, wie er sagte, in ihr gesucht hatte. ›Vielleicht gehören Sie längst nicht mehr dazu und wollen es nur nicht wahrhaben‹, hatte er gesagt. Wie lange war das her, sechs Wochen, oder weniger. Damals war es ihr unmöglich erschienen, ein derart listiges Leben zu führen, den Scheinfrieden mit Strutzer zu schließen, um heimlich ihr besseres Wissen zu Papier zu bringen, damit es irgendwann gelesen wurde oder vergessen. Inzwischen gab es Momente, in denen sie sich nach der Ruhe sehnte, die ein solches Leben ihr böte, in dem sie Strutzer endlich zur Gleichgültigkeit degradieren könnte. Sie würde sich einreihen in die Stummen, scheinbar Hirnlosen, die mit leeren Gesichtern das Ende der Referate und Diskussionen abwarteten, würde ihre nicht mehr anfechtbaren Manuskripte mit einem nicht anfechtbaren hochmütigen Lächeln auf Strutzers Tisch legen, nur abends würde sie sich an Christian vergewissern müssen, daß sie trotzdem noch immer die alte war. Sie müßte sich die Sätze, die sie früher gesagt hatte, wieder sprechen hören, und sie mußte wissen, daß einer sie hörte außer ihr. Abend für Abend würde sie den Authentizitätsbeweis antreten müssen, um nicht zu vergessen, wer sie war.
    Das hatte sie Christian gesagt, zwei Tage nach dem Morgen aus Veilchenwasser, und zwei Tage, nachdem sie die hellgrüne Einladung auf ihrem Schreibtisch gefunden hatte. Und dann stockend, gequält, abverlangt durch ihre Sicherheit, daß es ihn für sie gab, das ›Entscheide nur für dich, rechne dabei nicht mit mir‹.
    Ihr Verstand war nicht bereit, den Gehalt des Satzes aufzunehmen, er stellte sich tot, ohnmächtig wie ein Körper, dem unerträglicher Schmerz zugefügt wurde.
    »Ich muß dir etwas erklären«, sagte Christian.
    »Nein.«
    »Bitte hör mir nur fünf Minuten zu.«
    »Nein«, sagte sie, diesmal lauter.
    Er schob seinen Sessel vor sie, setzte sich, die Unterarme auf die Oberschenkel gestützt, die Hände zwischen den Knien gefaltet, saß, als sei er entschlossen, so mit diesem schuldigen, zugleich nachsichtigen Blick auszuharren, bis Josefa sich eines anderen besinnen würde.
    »Ich fühl mich nicht gut in der Sache«, sagte er leise. »Ich fühl mich ganz schlecht, mies.«
    »Das ist nicht nötig.«
    Sie hatte geflüstert, und Christian hatte sie nicht verstanden.
    »Bitte?« sagte er.
    »Das ist nicht nötig«, sagte sie.
    »So was gibt es doch«, er sprach zaghaft, bewegte sich auf den Worten wie auf dünnem Eis, millimeterweise, um rechtzeitig zu bemerken, wenn es unter ihm brach. »Man kann doch etwas wollen, es unbedingt wollen, es sich immer wieder vorstellen, bis man ganz sicher ist, daß man es will. Und dann, wenn es gekommen ist, wie man wirklich und stark gewünscht hat, ist es anders. Das kann es doch geben.«
    »Nein.«
    »So ist es aber.«
    »So siehst du es. Dann hast du eben nicht wirklich und stark gewollt. Dann hast du einfach so gewollt, einfach so, weil du es nicht hattest. Und das fünfzehn Jahre lang. Das glaubst du doch selbst nicht, daß es so war.«
    »Du warst früher anders.«
    »Das kommt dir so vor, weil es dich nicht betroffen hat.«
    »Nein, du warst anders, du warst souveräner, stärker. Das war es, dafür habe ich dich gemocht.«
    »Dann hast du dich eben geirrt.«
    »Oder du hast angefangen, mich zu lieben, weil du allein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher