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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche
Autoren: Monika Maron
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Sessel neben den Ofen, stützte die Hände in den Kopf, nachdenklich oder auch nur geduldig, in jedem Fall ruhig, was Josefa empörte. Wie konnte er bei dem Thema ruhig bleiben. »Hörst du mir überhaupt zu?« fragte sie leiser. »Weißt du, was ich meine? Die pumpen uns mit Tabletten voll, bis uns nichts mehr stört, nichts mehr freut, bis wir müde und zufrieden sind und nichts mehr verändern wollen, weil wir verlernt haben zu empfinden, was verändert werden muß. Psychiater verhindern den Fortschritt. Und zu denen willst du mich schicken, weil das so einfach ist, viel einfacher als zu sagen: ich, Christian, werde dir helfen.«
    Erst als sie verstummt war und der letzte Satz in der unerwarteten Stille stehenblieb, schien es ihr, als sei in ihm ihre ganze Hoffnungslosigkeit aufgehoben. Sie hätte heulen wollen, aber auch zum Heulen war sie zu erschöpft. Sie ließ sich in einen Sessel fallen und blieb regungslos in ihm sitzen, bis Christian sich vor sie auf die Erde kniete, sie streichelte wie ein Kind und behutsam auf sie einsprach. »Es war nur so ein Gedanke von mir. Vergiß es einfach, bitte. Ich will mich auch nicht drücken, bestimmt nicht, ich will dir helfen.« Er wärmte ihr die kalten Hände, und langsam löste sich der schmerzhafte Krampf in ihrem Hals, und endlich konnte sie weinen, weil sie ein winziges Stück neuer Hoffnung hatte.
    In dieser Nacht hatten sie sich anders geliebt als in allen anderen Nächten. Sie hätte damals – damals, dachte sie; es war zehn Tage her –, sie hätte in dieser Nacht kein Wort dafür gefunden. Jetzt fiel ihr ›Wehmut‹ ein. Und ›entsagungsvoll‹, ein Wort, das sie sonst nie benutzte. Sie erinnerte den salzigen Geschmack dieser Nacht, der von Christians oder von ihren eigenen Tränen gekommen war.

III.
    Am nächsten Morgen war der Himmel so blau wie ein Ozean auf der Landkarte, und man konnte den Eindruck haben, die Welt stünde kopf. Blaues stilles Wasser hing schwerelos im Raum, die Häuser standen sicher auf ihren Giebeln, und die Passanten sahen so aus, wie Kinder sich für gewöhnlich die Menschen auf der südlichen Erdhälfte vorstellen: hingen nur mit den Füßen an der Erde und stürzten auf geheimnisvolle Weise doch nicht ab. Josefa streckte die Hand aus dem Fenster, befühlte die laue, weiche Luft und beschloß, keinen Mantel anzuziehen, obwohl sie wußte, daß sie frieren würde, wenn sie abends nach Hause käme, und obwohl sie schon die Peinlichkeit ahnte, die sie befallen würde, wenn sie als einzige unbemäntelt und unbejackt in der U-Bahn stünde, verfolgt vom nachsichtigen Lächeln der weniger Leichtsinnigen.
    Sie erinnerte sich, als Kind von dem Getränk Veilchenwasser gehört oder gelesen zu haben. Seitdem hielt sie Veilchenwasser für das Wohlschmeckendste, das sich denken ließ. Hellblau und glasklar mußte es sein, zart im Geschmack und doch nachhaltig, und am ehesten hatte noch immer die erste unverhoffte Frühlingsluft ihre Vorstellung von Veilchenwasser getroffen, ein See voller Veilchenwasser, in dem sie badete. Josefa stand am Straßenrand und wartete auf eine Lücke zwischen den vorbeifahrenden Autos, als ein rostfarbenes Monster plötzlich fauchte und zischte, bis es stand. Ein Junge mit krausen blonden Locken, auf dem nackten Oberkörper ein mindestens zwei Nummern zu kleines rotes Turnhemd, winkte großzügig aus dem offenen Fenster: please, Madam, rief er. Hinter ihm wartete geduldig eine Schlange kleiner bunter Autos, bis Josefa die Mitte der Fahrbahn erreicht hatte und dem Jungen noch ein Danke zurief. Der Junge lachte, trat kräftig auf das Gaspedal, so daß das Monster heulte, sich schüttelte und lossprang, als gehörte es zu einem Zirkus und nicht zur Städtischen Müllabfuhr. Josefa überlegte, daß eine Regierung, die Wetter machen könnte, es mit dem Regieren leicht haben müßte. Bei Preisregulationen schönes Wetter, bei Popveranstaltungen im Freien oder beim Verkauf von Sommerreisen schlechtes Wetter, zum Empfang fremder Staatsoberhäupter gesundes Wetter, nicht zu heiß und nicht zu kalt, ebenso zu Demonstrationen, zum Kindertag mittelmäßiges Wetter, damit auch Museen und Ausstellungen genutzt werden. Selbst innerhalb eines Tages wären Variationen von Nutzen. Bis acht Uhr warm und sonnig, danach heftiger Gewitterregen und stürmische Böen, wer zu spät kommt, wird naß. Tagsüber trüb und kühl, das hebt die Arbeitsmoral. Zum Feierabend wieder heiter und wolkenlos, um die Reproduktion der Arbeitskraft zu
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