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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche
Autoren: Monika Maron
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fördern. Allerdings sollte zwischen Industrie- und Verwaltungsbezirken differenziert werden. Für Industriegebiete müßten Sonderregelungen getroffen werden, zum Beispiel speziell programmierte Gewitteranlagen vor jeder Werkhalle, um Normal-, Tag-, Spät- und Nachtschichtler gleichermaßen zu bedenken.
    Obwohl Josefa zwanzig Minuten zu spät kam, war der Großraum noch fast leer. Von der Abteilung Innenpolitik saß nur Günter Rassow an seinem wie immer musterhaft geordneten Schreibtisch. Josefa ärgerte sich, daß sie nicht, wie vermutlich alle Abwesenden, unter dem Vorwand eines lange vertrödelten Termins bei einer Bibliothek oder eines anstehenden Gesprächs in einem Pressebüro zwei oder drei Stunden für einen Spaziergang und für einen Kaffee im Espresso herausgeschunden hatte. Auf Günters Tisch standen Tulpen. Immer, wenn Josefa Tulpen sah, bekam sie Lust, sie zu essen. Tulpen sahen aus, als müßten sie eßbar sein. Einmal hatte sie sich nicht beherrschen können und hatte von einer dicken, blutroten Tulpe abgebissen. Sie schmeckte bitter, und Josefa hatte sie wieder ausgespuckt.
    Günter Rassow sah hinter sich auf die elektrische Uhr über der Tür. »Na, ausgeschlafen«, sagte er und lächelte mißbilligend. »Weißt du«, sagte er, »es geht mich ja nichts an, also ich meine, mir macht es nichts aus, wenn du zu spät kommst. Aber ich glaube, im Augenblick ist das für dich wirklich nicht günstig. Kannst du dich nicht wenigstens für ein paar Wochen mal ein bißchen anstrengen?«
    »Ich schon«, sagte Josefa, »aber das Kind ist morgens so müde. Und wenn ich ihn antreibe, heult er. Außerdem bin ich ja wohl nicht die letzte.«
    »Andere Kinder sind auch müde, und die Eltern kommen nicht jeden Tag zu spät. In deiner Situation solltest du wirklich einsichtiger sein.«
    Josefa winkte ab. »Hört doch bloß auf mit eurer Scheißpünktlichkeit. Ihr fragt doch auch nicht, wie ich das mache mit Kind und ohne Mann, wenn ich eine ganze Woche auf Dienstreise bin oder an Wochenenden schreibe oder abends. Laßt mich endlich mit dem Quatsch in Ruhe.«
    Günter zuckte mit den Schultern, wandte sich wieder seiner Zeitung zu und unterstrich mit Lineal und Rotstift Zeile für Zeile eines Absatzes.
    »Kommst du mit Kaffee trinken?« fragte Josefa.
    Günter sah noch einmal auf die Uhr, diesmal auf seine Armbanduhr, holte ein Stullenpaket aus seiner Aktentasche und stand wortlos auf.

    »Hast du gestern gesehen?« fragte Rassow zwischen zwei Löffelspitzen voll Quarkspeise.
    »Was?«
    »Na was schon – Frankenstein.«
    »Verflucht, hab ich vergessen. War schön?«
    »Schön gruslig. Meine Mutter war zu Besuch. Die hat sich nicht mehr nach Hause getraut.«
    Wenn Rassow überhaupt von einer Frau sprach, so nur von seiner Mutter. Er war knapp über Vierzig, und es war unwahrscheinlich, daß es in seinem Leben keine Frauen gab. Aber auf alle diesbezüglichen Fragen lächelte er nur mild und vermied jede erhellende Auskunft.
    »Am Sonnabend habe ich bis abends im Keller gehockt«, sagte Rassow, »ich brauchte ein neues Regal. Zu kaufen gibt es das ja nicht.«
    »Ich hab geschlafen.«
    Günter seufzte. »Das möchte ich auch einmal.«
    »Mach doch.«
    »Ich kann nicht am Tag schlafen. Hab ich noch nie gekonnt, nicht einmal im Krankenhaus. Dumme Angewohnheit. Oder Erziehung. Meine Mutter hat immer gesagt: nur ein Taugenichts schläft am Tag. Das sitzt. Das wird man nicht los.«
    »Eltern sind was Schlimmes.«
    »Wenn dein Sohn eines Tages so von dir spricht, denkst du darüber wahrscheinlich anders.«
    »Wer weiß.«
    Günter kratzte den Rest der Quarkspeise aus dem Glasschälchen, leckte sorgfältig den Löffel ab und schob das Schüsselchen ein Stück von sich. »Übrigens«, sagte er und wischte sich Lippen und Fingerspitzen mit einem Taschentuch ab, »habe ich vorhin nicht grundlos über deine Pünktlichkeit gesprochen.« Er sah Josefa eindringlich an, wartete nur auf ihre Frage, um Wichtiges mitteilen zu können.
    »Ich seh alles ein«, sagte Josefa ungeduldig, »aber hör jetzt auf. Es ist so schönes Wetter.«
    »Ob ich aufhöre oder nicht, dürfte kaum von Bedeutung sein«, sagte Rassow mit gedämpfter Stimme. Er senkte den Kopf und sprach in Richtung der Tischplatte weiter, so daß niemand von den Umsitzenden ihm die Worte von den Lippen ablesen konnte: »Strutzer hat noch allerhand vor mit dir.«
    »Na und«, sagte Josefa schroff. Rassows Neigung, jede Bagatelle zum Staatsgeheimnis aufzublasen, nervte sie.
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