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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche
Autoren: Monika Maron
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»Wieso, gibt’s wieder was Neues?« fragte sie trotzdem, als Rassow schweigend in seinem Kaffee rührte.
    »Ich darf darüber eigentlich nicht sprechen.« Er flüsterte fast und rückte noch ein Stück näher an Josefa. »Strutzer will dein Verhalten vor der Parteileitung in der Mitgliederversammlung diskutieren. Die Parteileitung hat zugestimmt. Aber Josefa, ich bitte dich … kein Wort. Auch nicht zu Luise.«
    Der Schreck traf Josefa heiß und scharf im Magen, zog langsam in die Beine, in die Arme. Gleich würden ihre Hände zittern. Sie sah auf ihre Finger, bis ihre Unruhe sie erreicht hatte.
    »Aber warum denn?« fragte sie.
    Rassow antwortete nicht.
    »Warum denn noch mal?«
    »Nicht so laut«, sagte Rassow und legte seine Hand auf Josefas Arm. »Reg dich doch nicht auf. Ich hätte es dir nicht sagen dürfen. Mein Gott, ich komm in Teufels Küche, wenn du darüber sprichst.«
    »Ist schon gut«, sagte Josefa, ohne Rassow anzusehen. Seine Angst war ihr peinlich. »Ich sag nichts. – Und warum darf ich das nicht wissen?«
    »Du bekommst eine Einladung, schriftlich.«
    Wie gehabt, dachte Josefa, alles noch einmal, nur größer, alles Quatsch mit dem Veilchenwasser und den Zirkusgäulen von der Müllabfuhr, auf Strutzer machte Frühling keinen Eindruck.
    »Warst du auch dafür?« fragte sie.
    »Was heißt dafür«, sagte Rassow, »dafür war ich nicht. Es war nur schwer, dagegen zu sein, du hast dich ziemlich unklug verhalten, um nicht zu sagen provokant. Wenn Strutzer darüber in der Mitgliederversammlung sprechen will, ist kaum etwas dagegen einzuwenden. Hätte er noch einmal diesen Brief hochziehen wollen, wäre das etwas anderes gewesen, aber so …«
    »Und Schütz?«
    »War zuerst dagegen. Tja.«
    Plötzlich hüstelte Rassow unnatürlich, und Josefa sah Jauer, der mit seiner Tasse in der Hand neben ihrem Tisch stand.
    »Setz dich, ist frei«, sagte Rassow, erleichtert, das Thema wieder verlassen zu dürfen.
    Jauer erzählte von seinen Wochenendspaziergängen, die er seit seinem Krankenhausaufenthalt in die Umgebung der Stadt unternahm. Jeden Sonntag fuhr er an einen See und lief um ihn herum. Das gehöre zu seiner Therapie, erklärte er. Das Alleinsein, die natürliche Bindung an die Landschaft, auch das konkrete Ziel, eben einmal um den See zu laufen, die Freude am Funktionieren seines Körpers beschwöre in ihm ein ganz neues Selbstwertgefühl. Jauers Terminologie hatte sich in den letzten Wochen auffallend verändert. Er fühlte sich nicht mehr wohl, sicher oder unsicher, sondern er hatte mehr oder weniger Selbstwertgefühl. Er war auch nicht mehr verärgert oder traurig, sondern dekompensiert. Er sprach nicht mehr von seiner Lust oder Unlust zur Arbeit, sondern von seiner Motivation. Zur Zeit sei er hervorragend motiviert, sagte er, und es hatte den Anschein, als spräche Jauer über seine Psyche oder seine Physis wie über etwas Fremdes, das ohne sein Zutun existierte, dessen Werdegang er aber erstaunt und pedantisch zur Kenntnis nahm.
    Jauers Erzählung streifte Josefas Gedanken, kreuzte sie und hinterließ in ihnen Zäsuren, die Josefa als unangenehm und belästigend vermerkte, ohne daß sie genau wußte, welcher Art die Assoziationen waren, zu denen Jauer sie drängte. Sie stellte sich die Tage und Wochen vor, die sie jetzt erwarteten, die guten Ratschläge und die Angst und Strutzer, immer, immer wieder Strutzer. Jauers glanzlose Augen sahen sie an. »Training«, sagte er, »man kann die Psyche trainieren wie einen Muskel.« Jauer lief um den See, ohne an etwas anderes zu denken als an den See und die Bäume und den Geruch des Waldes. Das konnte man lernen. Jauer konnte es schon. Wenn sie nur wüßte, seit wann der dünne rote Strich über seine Stirn lief. Aber sie würde es leichter haben als Jauer. Sie wäre nicht allein. Für einen Menschen bleiben, wer sie war. Unerhört kreative Zustände würde er oft auf seinen Spaziergängen erreichen, sagte Jauer mit seiner nicht mehr provisorischen Stimme. Sie brauchte keinen Psychiater. Für kurze Zeit schlug ihr Herz härter und schneller. Nein, Christian würde ihr bleiben. Seit gestern wußte sie wieder, daß er bleiben würde. Sie müßte nicht schlaflos und allein die Nächte ertragen wie Jauer.
    »Ich kenne solche Stimmungen«, sagte Rassow, »im Sommer beim Angeln habe ich die besten Ideen. Zum Angeln gehe ich nie ohne Papier und Bleistift.«
    Jauer nickte. »Obwohl«, sagte er, »ich schreibe nichts auf. Man muß es in sich sinken lassen,
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