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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche
Autoren: Monika Maron
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nicht mehr zurechtkamst. Josefa, fünfzehn Jahre ist dir das nicht eingefallen, warum denn gerade jetzt? Du wolltest den Rückzug antreten. Als dir der Boden unter den Füßen wankte, wolltest du wenigstens einen Fuß auf festem Land haben. Ich habe das verstanden, ich wollte das auch. Ich kann aber nicht, wenn du aufhörst, du zu sein. Diese Tabletten, die Vorwürfe, dein ewiges Warten, die Angst. Wann hast du eigentlich zum letzten Mal richtig gelacht?«
    »Worüber soll ich denn lachen«, sagte sie, abwesend, kraftloser Versuch eines Protests, sinnlos, nicht ernst gemeint. Still und unausweichlich hatte sich wochenlang etwas auf sie zubewegt, und sie hatte nicht hingesehen, wohl gespürt, daß sich heimlich etwas bewegte, hatte sich blind, taub und fühllos gestellt.
    »Und jetzt?« fragte sie.
    Er nahm die Brille ab, ach ja, dachte sie, das also. »Ichweißnicht«, sagte er, wußte doch, hörte sie. »Esmußsichetwasverändern« sagte er, versuchte Schonung, warum noch, »istschongut«, sagte sie, starrte noch immer auf den kleinen braunen Kaffeefleck in der Tischdecke, »nadann«, sagte sie.
    »Ich hätte noch nicht darüber gesprochen«, sagte er.
    »Bittehörauf.«
    Er schwieg.
    Aufspringen, dachte sie, ihn festhalten, schreien, brüllen, bitten, geh nicht, mach das nicht, ich kann nicht, bitte, bleib, die Haare anfassen, festhalten, die Ohren, den Hals, ganz fest, bleib, bitte.
    »Geh doch«, sagte sie, »geh jetzt«, sah auf den kleinen braunen Fleck.
    »Glaubmiresfälltmirnichtleicht«, sagte er.
    »Hauab«, sagte sie.
    Er stand auf, setzte umständlich seine Brille auf, sah Josefa nicht an, an der Tür lehnte sie sich an ihn. »Nein, warte noch, noch ein bißchen.« Sie weinte, er streichelte ihren Kopf, »laßmichlos« schrie sie. Dann schwiegen sie, zwei Stunden lang.
    Als er ging, brachte sie ihn nicht zur Tür. Ich ruf dich an, sagte er, während er die Jacke zuknöpfte. Sie sah ihm nach, hörte ungläubig, wie er leise die Tür ins Schloß zog. Sie blieb in ihrem Sessel sitzen und wartete auf die Verzweiflung, die nun, da sie allein war und zu verstehen begann, daß sie allein war, einsetzen mußte. Aber die Leere in ihr blieb schmerzlos und kühl. Sie betrachtete fremd die Bilder an den Wänden, den ovalen Spiegel, die vom Zigarettenrauch geschwärzte Decke; nebenan schlief das Kind: zwischen alldem sie, wie vorher, wie vor einem Jahr, oder wie vor zwei Jahren. Aber etwas war zu Ende gegangen, und die Verzweiflung darüber blieb aus. Sie wird noch kommen, dachte sie, wenn ich aufstehe und mich bewege, wenn ich erst erwache, wird es losgehn. Sie blieb still sitzen. Nur nichts durcheinanderbringen in dem Kopf, die starre Ordnung nicht stören, in der ihre Gedanken sich gerade bewegten.
    Ich muß etwas tun, dachte sie. Wütend werden und schrein, vielleicht würde es helfen, wenn sie zornig würde. Zornig über den Verrat. Wer war der Verräter? Christian? Sie selbst? Beide? Keiner?
    Als der Großvater Pawel aus Deutschland ausgewiesen wurde, hatte man der Großmutter Josefa, die Baptistin war, geraten, sie solle sich scheiden lassen und in Berlin bei ihren Kindern bleiben. Die Großmutter hatte zuerst ihre eigene Wäsche gepackt, dann die des Großvaters. Sie war nicht mit ihm nach Amerika ausgewandert und nicht nach Rußland, und sie hatte dem Großvater verboten, auf Wanderschaft zu gehen. Aber später wollte sie mit ihm in das Ghetto ziehen. Das hat man ihr nicht erlaubt. Kein Versuch der Großmutter, die eigene Biographie zu verfälschen oder ihr zu entrinnen. Treue, Liebe, bis daß der Tod uns scheide. Inzwischen aus dem zugelassenen Wortschatz getilgt. Vor Mißbrauch geschützt. Auch vor Gebrauch. Demnach lag in Josefas Fall kein Verrat vor. Es konnte nicht verraten werden, wo nichts zu verraten war. Nein, es war kein Zorn in Josefa, nicht auf Christian, nicht auf sich selbst. Eher Verwunderung, weil endlich geschehen war, was hatte geschehen müssen. Wie nach physikalischen Gesetzen, dachte sie, wir reagieren genau, mit fataler Berechenbarkeit.
    Er hat recht, dachte sie, er hat recht.
    Am nächsten Tag hatte sie Luise um einige Tage Urlaub gebeten.

    Die Knospen der noch kahlen Linde vor dem Fenster glänzten klebrig in der Sonne, noch zwei oder drei Wochen, dann würden sich die hellgrünen Blätter aus ihren Schalen rollen. Noch zwei oder drei Wochen später, und sie würden stumpf und grau geworden sein von dem Straßenstaub. So lange war Frühling. Eine Drossel kreuzte den Himmel. Mit
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