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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt
Autoren: dtv
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»Führungswechsel bei den Föhrer Jägern« und dahinter, da ist er sich sicher, Emil Noldes ›Feriengäste‹ von 1911, das Original.
    |293| So nahe ist er dem Bild gekommen. Ein paar Minuten früher und er würde es jetzt in seinen Händen halten. Warum ist er nicht schneller gewesen? Es darf wirklich nicht wahr sein. Alles war umsonst. Er kann diesen Verkauf nicht mehr verhindern. Das weiß er. Aber das muss doch irgendwie rückgängig zu machen sein. Harry fühlt eine rasende Wut in sich aufsteigen. Sein Puls hämmert in seinem Kopf. Er ist wütend auf sich selbst, auf die unfreundliche Alte mit ihren beknackten Kämmen und ein bisschen auch auf Zoe, die ihn davon abgehalten hat, sich rechtzeitig um das Bild zu kümmern. Vor allem aber hat er einen mordsmäßigen Hass auf diesen Typ mit dem Fahrradhelm. Für einen Moment nimmt Harry sich noch zusammen.
    »Kann ich Ihnen das Bild nicht abkaufen?«, fragt er den Oberlehrer. »Wenn ich Ihnen, sagen wir   ... das Doppelte biete? Wissen Sie, es ist bei mir etwas Persönliches mit dem Bild.«
    »Wir finden bestimmt etwas Ähnliches für Sie«, schaltet sich Zoe ein, die jetzt auch wieder dazukommt. »Kommen Sie. Es ist für meinen Mann mit einer persönlichen Erinnerung verbunden.«
    Aber der Mann steht einfach nur da in seinem lächerlich glitzernden Fahrradhelm und guckt durch seine zu große gelbe Pilotenbrille knapp an ihnen vorbei. Harry glaubt ein Triumphgefühl in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Am liebsten würde er ihm das Bild aus der Hand reißen. Warum kann der Kerl nicht einfach in die stürmische See fallen wie Kieseritzky und der Fährmann? Oder vom Leuchtturm stürzen |294| wie Silva Scheuermann? Diesmal wäre er auch bereit, etwas nachzuhelfen.
    Eine unbändige Wut erfasst Harry. Er muss das Bild einfach haben. Das ist sein Nolde. Er war damals in das Museum eingestiegen. Er hatte alle Risiken getragen. Er ist jetzt nach Deutschland zurückgekehrt, um das Bild zu holen. Der Typ mit seiner blöden Brille hatte kein Recht auf das Bild – dieser Schmarotzer.
    »Wir können über den Preis reden«, versucht Harry es weiter. Er muss sich beherrschen, ihn nicht anzuschreien. »Was haben Sie überhaupt bezahlt? Ich biete Ihnen   ... das Dreifache.«
    Heike hinter ihrem Verkaufstisch guckt etwas betreten angesichts des entgangenen Geschäfts. Aber der Fahrradhelm reagiert einfach nicht. Im Gegenteil – er macht sogar Anstalten zu gehen.
    »Moment mal!« Harry wird jetzt lauter. »Ich hab Sie was gefragt!« Er merkt, dass er zu schreien beginnt. Zoe guckt schon besorgt. Und auch die anderen Leute von den umliegenden Ständen sehen zu ihnen herüber.
    In seinen Halsschlagadern hämmert der Puls, und er spürt ein Brennen in seinen Aknenarben. Harry kennt sich selbst nicht wieder. Seine ganzen illegalen Transaktionen der letzten Jahre, die Verkäufe von Fälschungen, aber auch die Diebstähle hat er mit konzentrierter Routine abgewickelt. Sicher, es gab immer wieder Situationen, in denen er angespannt und nervös war. Doch er hatte niemals die Fassung verloren. Aber diese kleine Ratte hier bringt ihn wirklich zur Weißglut.
    Harry fasst den Mann jetzt an seiner Windjacke. |295| Der Stoff fühlt sich glatt und weich an. Er ist schlecht zu fassen. Aber Harry krallt sich in der blauen Jacke fest.
    »Was bilden Sie sich ein?«, sagt die Ratte etwas gestelzt. Sieh an, er kann also doch sprechen. Er sagt »bilden« mit einem langen »i«: »biiilden«. Harry hat ganz vergessen, dass er diesen Ruhrpottdialekt spricht.
    »Sie sind mir doch gleich bekannt vorgekommen«, nuschelt der Mann. Er öffnet seinen Mund dabei kaum, sodass seine spitzen Rattenzähne nicht zu sehen sind.
    Harry hat ihn jetzt ganz dicht vor sich. Seine kleinen Augen sind unter dem schirmartig vorstehenden Fahrradhelm und hinter der gelben Brille kaum zu sehen. Aber er kann die einzelnen Haare des penibel gestutzten Bartes erkennen. Sein Mund, der ein paarmal kurz zuckt, wirkt klein und weich, fast jugendlich. Harry hat seinen lehrerhaften Tonfall im Ohr, mit dem er damals vor dem Steuerhaus über Steinbutt und Knurrhahn dozierte. Aber diesmal ist es kein Fisch, den er ihm vor der Nase wegschnappt. Es sind seine ›Feriengäste‹. Er könnte reinschlagen in diese Visage.
    »Es ist mein Bild. Das weißt du ganz genau!«, zischt er ihn an.
    »Was heißt Ihr Biiild? Das hab ich grad gekauft.« Er versucht Harrys Hand von sich wegzudrücken. Doch der greift jetzt umso fester zu.
    »Sie w-wissen
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