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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt
Autoren: dtv
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Oberschenkeln spürte er nasses Textil. Er musste mit der Hand danach greifen. Es fühlte sich an wie ein Kleidungsstück, eine Jacke mit einem Arm darin. Ein menschlicher Arm, der in diesem Moment nach oben schwappte. Harry erkannte sofort den derben Stoff der Seemannsjacke. Er hielt einen Arm des Fährmanns in seiner linken Hand.
    |284| Nur mit größter Mühe konnte Harry einen Schrei unterdrücken. Da wurde der dazugehörige Körper wie von unsichtbarer Hand gurgelnd an die Wasseroberfläche gedrückt. Für einen kurzen Moment erschien eine schreckliche Fratze in dem dunklen reißenden Strom. Die aufgerissenen Glupschaugen stierten an ihm vorbei ins Leere. Das Gesicht des Fährmanns war noch aufgedunsener als in lebendigem Zustand, kalkweiß mit deutlichem Stich ins Bläuliche. Nur die Haare leuchteten orange, fast so wie bei dem Jesus in dem Nolde-Triptychon in Seebüll.
    Der Körper tauchte kurz auf, drängte sich drehend an Harry vorbei und schoss dann, von der Strömung des Priels mitgerissen, in die Dunkelheit Richtung Hallig Langeneß. Im selben Augenblick war auch Harrys Bein wieder frei. Es waren nur ein paar Sekunden gewesen, aber sie waren ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.
    Hektisch watete er durch das hüfttiefe Fahrwasser. Mit der Linken zog er sich die Klamotten wieder nach oben. Pullover und Anorak hatten unten einen nassen Rand bekommen. Nach wenigen Schritten wurde es wieder flacher. Aber Föhr war immer noch nicht in Sicht. Um ihn herum waberte eine dicke Nebelsuppe. Harry sah absolut nichts mehr. Auch sein Verfolger war verschwunden. Nur die Austernfischer zogen noch einmal krakeelend über ihn hinweg.

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    So unglücklich vieles damals gelaufen war, danach war Harry das Schicksal hold gewesen. In dieser Nacht vor achtzehn Jahren war er wohlbehalten nach Föhr gekommen. Nicht einmal seine Klamotten waren richtig nass geworden. In einem Schuppen in der Nähe der Borgsumer Mühle hatte er sich einige Zeit verkrochen und sogar eine Weile gedöst. In der ersten Morgendämmerung war er über die ganze Insel gelaufen, Richtung Wyk, um von dort mit der ersten Fähre aufs Festland zu kommen. Das wollte er riskieren.
    Aber dann traf er Jackie vor dem kleinen Flugplatz zwischen Nieblum und Wyk, den Typ im weißen Anzug von der Party auf Sylt. Er hatte mit einer kleinen Maschine einen Freund auf Föhr abgesetzt und wollte gleich weiter nach Frankfurt. Er bot Harry an, ihn mitzunehmen, und der nahm das natürlich bereitwillig an. Das war ein glücklicher Zufall.
    Auf dem Frankfurter Flughafen bekam er einen günstigen Flug nach New York: one-way. Es war ein erhebendes Gefühl für ihn, als er diese beiden Worte sagte: »one-way«. Er putzte sich in der Flughafentoilette neben einem indisch aussehenden Mann mit einem Turban die Zähne. Die Zahnbürste hatte er schließlich dabei. Es war sein einziges Gepäckstück, außer dem Zimmerschlüssel der »Nordseeperle«, knapp tausend Mark, die nach dem Kauf des Flugtickets übrig geblieben waren, und dem schon reichlich zerfledderten Zettel mit der New Yorker Adresse. Außerdem hatte er noch die zusammengefaltete Neckermann-Tüte in seinem |286| Anorak. Er warf sie in der Flughafenhalle in einen der metallenen Papierkörbe.
    Er kaufte sich eine Schachtel Chesterfields und vertrieb sich die Wartezeit mit Zeitunglesen. Die ›Bild‹-Zeitung brachte auf den hinteren Seiten einen Zweispalter über die Todesfälle auf den Nordseeinseln. Mit Bildern von Kieseritzky und dem vermissten Fährmann. In Panik konnte Harry das nicht mehr versetzen. Er hatte den Zoll bereits passiert. Er saß vor der Glasfront mit Blick auf das Gate inmitten einer bunten Reisegesellschaft, die tatsächlich so aussah, als gehörte sie nach New York, und trank gegen die ihn überfallende Müdigkeit literweise Kaffee auf Kosten von »Delta Airlines«.
    Als er im Flugzeug saß, schliefer sofort ein. Er träumte wild. Aber es war nicht mehr der Shantychor, der ihm erschien. Er träumte vielmehr, dass er in New York eine Andy-Warhol-Ausstellung besuchte. Es waren neue Siebdrucke im typischen Warhol-Stil: acht grelle Porträts dicht nebeneinandergehängt. Immer dieselbe Person in verschiedenen Bonbonfarben. Trotz der Verfremdung erkannte er das Gesicht sofort. Es war nicht Marilyn Monroe, nicht Jackie Kennedy. Es war Imke Quarg, die Putzfrau aus dem Nolde-Museum. Achtmal nebeneinander in verschiedenen Farbvariationen stierte die Putzkraft ihn an. Die
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