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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt
Autoren: dtv
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ganz genau, was ich meine.«
    Zoe fasst ihn am Arm und zieht ihn zurück. »Darling, calm down!«
    Harry lässt ihn los. Und im Loslassen schubst er ihn |296| ein Stück von sich weg. Der Oberlehrer aus dem Ruhrpott guckt an sich herunter und streicht seine Jacke glatt, dort, wo Harry zugegriffen hat. Durch den Helm wirkt jede seiner Kopfbewegungen überdeutlich wie bei einem Vogel. Trödelhändlerin Heike hat es die Sprache verschlagen. Und auch an den benachbarten Ständen ruht der Verkauf.
    Die Ratte nimmt das Bild, blickt Harry noch einmal kurz an und scheint ihm durch seine getönte Brille höhnisch zuzublinzeln. Kurz verzieht sich der kleine Mund zu einem vorsichtigen Grinsen, sodass für einen Moment dann doch die spitzen, schlechten Zähne zu sehen sind. Dann geht er wortlos, die ›Öömrang wüfen‹ unter dem Arm, zu seinem Fahrrad. Harry bleibt hilflos und wütend zurück – wie gelähmt in seinem unbändigen Zorn. Zoe guckt ihn prüfend an. Sie weiß, dass sie jetzt nichts sagen darf. Von den Halligen kommt ein Donnern herüber.

25
    Zwei Monate später sind Harry und Zoe von ihrer Deutschlandreise zurück in ihrem Leuchtturm an der Chesapeake Bay. Sie haben ihre Galerie wieder eröffnet und waren schon mehrmals Krebse essen in ihrem Lokal auf dem Steg. Tippi ist wieder da aus ihrem Feriencamp in den Blue Ridge Mountains und hat seit Neuestem einen Freund, dem Harry höchst skeptisch gegenübersteht. Er ist an diesem Tag in New York gewesen |297| . Aus früheren Zeiten hat er dort immer noch ein Postfach unter einem falschen Namen. Heikle Paketsendungen mit gefälschter Kunst lässt er sich lieber dorthin schicken.
    Es ist ein spätsommerlich warmer Tag. In New York war es noch richtig stickig. Als er am frühen Abend die Stufen zu ihrer Wohnküche mit Blick auf die Bay hinaufsteigt, hat er zwei große, wattierte Umschläge dabei. Der eine kommt von einem alten Bekannten, einem Malerfreund aus Studienzeiten, der jetzt in Südfrankreich lebt. Er enthält drei sehr hübsche kleine Picassozeichnungen und ein Schreiben mit dem Hinweis, dass er durchaus Gelegenheit hätte, noch weitere Picassos aufzutreiben. Der andere Brief ist von Maja aus Rantum. Harry hat das gleich an der Briefmarke der Deutschen Post mit einem Leuchtturm erkannt. Maja schickt ihm ein Bild, das er bei ihrem Treffen auf Sylt in Auftrag gegeben hatte: Einen wunderschönen Matisse. Eine halb abstrakte rote Tänzerin.
    In ein paar Zeilen in ihrer Mädchenhandschrift erinnert sie noch einmal an ihr Treffen auf Sylt und kündigt ihren Amerikabesuch für das nächste Frühjahr an. Das beiliegende Kuvert enthält außerdem einen Zeitungsausschnitt aus dem ›Inselboten‹. Harry hat ihn unterwegs schon überflogen. Aber jetzt liest er Zoe und Tippi den Text noch einmal genüsslich vor.
    »RÄTSEL UM TOTEN IM STRANDKORB«, lautet die Überschrift, und darunter steht folgender Text:
    |298| »In einem in der Kniepsandhalle in Nebel eingelagerten Strandkorb wurde die Leiche eines Mannes gefunden. Bei dem Toten handelt es sich um den seit mehreren Wochen vermissten Hans-Georg Razcinsky, Besitzer einer Ferienwohnung an der Wittdüner Südspitze. Der Tote trug einen Fahrradhelm und hielt eine Tüte mit zwei Litern ungepulten Krabben sowie ein großes Paket übel riechender Sandschollen fest umklammert. Neben ihm im Strandkorb lag ein Ölgemälde mit der Darstellung dreier Friesinnen in Tracht. Die Todesumstände sind ungeklärt. Ein Gewaltverbrechen schließt die Polizei nicht aus. Über den Stand der Ermittlungsergebnisse ließen die zuständigen Behörden bisher nichts verlauten.«
    »Das ist alles«, sagt Harry. Während er die Jakobsmuscheln, die er auf dem Weg frisch aus Annapolis mitgebracht hat, in der Küche zubereitet, öffnet Zoe einen Weißwein.
    »Wirklich rätselhaft, diese Geschichte mit dem Toten«, sagt Zoe und zieht die Augenbrauen nach oben. Sie reicht Harry ein Glas. Er hat sich ein gestreiftes Geschirrhandtuch in den Hosenbund gesteckt und richtet die Jakobsmuscheln auf einer Pasta mit Ingwer, Knoblauch und Porree an.
    »Darf ich auch ein Glas, Dad?«
    »Darf sie auch ein Glas?«
    »Ein kleines, Tippi. Eins!« Zoe steht mit dem beschlagenen Weinglas vor dem neuen Bild über dem Esstisch. Durch das große Fenster mit Blick über das Wasser fällt das Abendlicht auf die dick aufgetragene |299| Ölfarbe. Der Holzzaun im Hintergrund leuchtet blauviolett. Die Frau in der Mitte des Bildes lächelt Zoe zu. Die beiden anderen Frauen sehen
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