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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt
Autoren: dtv
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Polizist.
    »Vorsicht, Pidder!«, rief ein Kind. »Lauf! Schnell!«
    Harry kam sich tatsächlich wie in einem Kasperlestück vor. Blitzschnell rannte er von der Bühne zurück in den Raum mit den Öljacken.
    »Pidder, rette den Piratenschatz«, schrien einige Kinder hinter ihm her.
    |278| In leisen, aber großen Schritten, indem er zwei oder drei Stufen auf einmal nahm, hastete er die nächste Treppe nach oben, wo sich die Schlafräume befanden. Gleich im ersten Raum, den er betrat, fand er einen offenen, leeren Metallspind. Harry stellte sich hinein und zog leise die blecherne Tür hinter sich zu. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er lauschte. Es war nichts zu hören. Nur von Weitem das gedämpfte Gejohle der Kinder. Er zwang sich, ruhig zu atmen. Es war eng, aber immerhin geräumiger als im Kofferraum des R4.
    Er hörte, wie im Haus nach ihm gesucht wurde.
    »Dat gibt’s doch gar nicht«, sagte Hark Tadsen immer wieder. »Der muss hier irgendwo sein.«
    Auch den hessischen Akzent von Seehase meinte er ein paarmal herauszuhören und die Namen »Heide« und »Pidder Lyng«. Irgendjemand öffnete auch kurz die Tür zu dem Schlafraum, in dem er sich versteckt hielt. Aber auf die Idee, die einzelnen Schränke zu untersuchen, kam glücklicherweise niemand.
    Nach etwa einer halben Stunde schienen die beiden Polizisten abzuziehen. Harry hörte den röhrenden Auspuff des »Jetta«. Sie gingen offensichtlich davon aus, dass er das Kinderheim verlassen hatte. Vorsichtig stieg Harry aus dem Metallspind. Er hatte schon ganz steife Glieder. Leise stieg er die Treppe hinunter. Die Kinder waren inzwischen alle im Speisesaal, sodass er unbeobachtet das Haus verlassen konnte. Nur einem kleinen Mädchen mit einem großen Leuchtturm auf dem Shirt begegnete er auf dem Eingangsflur.
    |279| »Psst.« Er hielt sich den Zeigefinger vor den Mund. Sie guckte ernst mit großen Augen zu ihm hoch: »Großes Piratenehrenwort. Ich verrat’ dich nicht, Pidder Lyng.«

23
    Inzwischen war es fast dunkel. Harry musste sich beeilen. Er war etwas spät dran. Der Wind hatte sich gelegt. Es regnete nicht, dafür zog Nebel auf. Der bot ihm einen gewissen Schutz, aber andererseits brauchte er auch eine gute Sicht. Von früher hatte er noch die Warnungen des Wattführers im Ohr: »Niemals bei schlechten Sichtverhältnissen gehen! Auf keinen Fall bei Dunkelheit! Und nie allein gehen!« Er verstieß gleich gegen alle Wattwanderregeln gleichzeitig.
    Trotz der Nebelschwaden, die über das Watt zogen, war die Silhouette von Föhr zwischendurch immer wieder zu erkennen. Auf dem Sandweg Richtung Seevogelwarte versuchte er sich zu erinnern, wo genau der richtige Weg durch das Watt begann. Dabei hätte er fast nicht bemerkt, dass er schon wieder verfolgt wurde. Vielleicht zwei- oder dreihundert Meter hinter ihm lief ein Mann. Aber es war keiner der Polizisten. Das konnte er trotz des aufkommenden Nebels erkennen. Was machte der Typ hier? War das einfach nur ein Spaziergänger? Eher unwahrscheinlich, dachte Harry, zu dieser Tageszeit und bei dem Nebel.
    Er zog seine Sportschuhe und Socken aus und krempelte |280| sich die Hosenbeine hoch. Auf den Wattwanderungen in seiner Kindheit hatte er eine Badehose angehabt, erinnerte er sich. Beim Durchqueren des tieferen Priels auf halber Strecke zwischen den Inseln war ihm das Wasser bis zum Bauch gegangen. Aber als Kind war er natürlich auch wesentlich kleiner gewesen. Tiefere Priele waren im Augenblick gar nicht zu sehen. Rundherum nur das schlickige Watt mit diesen kleinen Haufen, den Ausscheidungen der Wattwürmer, die selbst aussahen wie Würmer. Und dazwischen Muscheln und grüne Algenschlingen.
    Harry drehte sich um. Der Mann war ihm ins Watt gefolgt. Das war ganz sicher kein Zufall mehr. Wer war der Typ, der ihn hier durch die Nacht verfolgte? Harry beschleunigte sein Tempo. Seine Füße versanken immer mehr im Schlick. Der schwarze Schlamm quetschte sich bei jedem Schritt zwischen seine Zehen hindurch. Über ihn zog schrill piepend eine kleine Gruppe Austernfischer hinweg. Von Utersum auf Föhr leuchteten jetzt einige Lichter herüber. Das Ufer sah erstaunlich nah aus.
    Er versuchte sich zu orientieren. Man durfte nicht den nahe liegenden Weg, die Luftlinie zwischen den Inseln, nehmen. Dort war die Fahrrinne in der Mitte zu tief. Jetzt war er sich auf einmal ganz sicher, wie er gehen musste. Und selbst wenn er noch einmal nass würde, was machte das schon. Das Wetter war wenigstens ruhig. So dramatisch wie bei
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