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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt
Autoren: dtv
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jemand langgefahr’n. Auf ’m Fahrrad.«
    »Auf’m Fahrrad? Nee. Nur Nis und seine Jäger.« Anke spielte die begriffsstutzige Unschuld erstaunlich echt, fand Harry.
    »Dat gibt’s doch gar nicht. Wo soll der denn hin sein?«
    »Wer denn, Hark?«
    »Ach nix.«
    »Denn will ich mal weiter.« Während sie das Seitenfenster schloss, fuhren sie schon wieder.
    »Alles klar bei dir im Heck?«, rief Anke nach hinten.
    |272| »Echt gemütlich hier.«
    »Wo willst du überhaupt hin?«
    »Gute Frage.«
    Er wusste es ja wirklich nicht. Und er war auch ganz und gar nicht in der Lage, irgendeinen vernünftigen Gedanken zu fassen. Die Räder unter ihm rumpelten, und der harte Kunststoff der Hutablage schlug ihm bei jedem Holpern und Wippen der altersschwachen Stoßdämpfer auf den Kopf. In dem engen Kofferraum roch es nach Krabben. Ganz intensiv. Nicht unangenehm fischig, sondern nach frischen Krabben vom Kutter, nach Sommerferien an der See, als Kind mit seiner Großmutter. Und plötzlich hatte Harry eine verwegene Idee. Es mochte verrückt sein, aber es war seine vermutlich einzige Chance.
    Das Watt sah gerade nach Niedrigwasser aus. Er hatte das während seiner Fahrradflucht gar nicht richtig realisiert. Doch jetzt im dunklen Kofferraum fiel es ihm wieder ein. Und bei Niedrigwasser war es möglich, zu Fuß über das Watt von Amrum nach Föhr zu laufen. Vielleicht war es lebensgefährlich. Aber es konnte seine Rettung sein.
    Als Kind in den Sommerferien war er diesen Weg mit seiner Großmutter mehrfach gegangen. Immer mit einem Führer und immer bei Tageslicht. Es wurde jedes Mal davor gewarnt, auf eigene Faust und vor allem auch allein über das Watt nach Föhr zu gehen. Aber er hatte ja keine Wahl!
    Er meinte, sich eigentlich gut an diese Wattwanderungen erinnern zu können. Man musste möglichst einige Zeit vor dem Niedrigwasser losgehen, um die |273| tieferen Priele auf halber Strecke auch wirklich bei niedrigstem Wasserstand zu erreichen. Das Wasser ging einem dann immer noch bis zur Hüfte.
    Hatte er die Zeiten von Hoch- und Niedrigwasser nicht gestern noch am Strandaufgang in Norddorf gesehen: Siebzehn Uhr vierzig. Wenn er sich richtig erinnerte. Das passte doch perfekt. Heute war das Niedrigwasser eine Dreiviertelstunde später, also gegen halb sieben. Und jetzt war es kurz vor fünf. Harry war wild entschlossen. Er musste es versuchen.
    »Setz mich in Norddorf ab. Irgendwo in der Nähe des Strandes. Vielleicht nicht gerade an der Hauptstraße.«
    »Wo willst du denn bleiben? Es wird gleich dunkel.«
    »Genau. Ich hab da so eine Idee.« Er verriet Anke nicht, was er vorhatte. Er konnte ihr vertrauen, da war er sich eigentlich sicher. Aber wer weiß, ob sie am Tresen der »Blauen Maus« oder im Schein ihrer psychedelischen Nachttischlampe nicht versehentlich doch etwas erzählte.
    Auf einem kleinen unbelebten Parkplatz am Rande der Dünen hielt sie an und befreite ihn aus seinem Kofferraum. Anke sah gut aus in ihrer kurzen speckigen Lederjacke und mit der wilden blonden Mähne.
    »Wenn du doch noch ein Versteck brauchst heute Nacht, du weißt ja, wo du mich findest.«
    Als er ihr zum Abschied einen flüchtigen Kuss gab, kam Harry sich richtig verwegen vor.
     
    |274| Es dämmerte. Das war schon mal beruhigend. Und auch der Regen hatte aufgehört. Für einen Moment meinte Harry die Dinge wieder im Griff zu haben. Für einen recht kurzen Moment. Denn als er über den versandeten Platz ging, auf dem verloren zwei Glascontainer standen, sah er schon wieder den roten »Scorpio« auf den Parkplatz einbiegen, hinter dem Steuer, der kleinste Kommissar Norddeutschlands. Die Schiffermütze mit dem Brokatband war leicht zur Seite gerutscht. Er sah so harmlos aus. Aber das täuschte. Seehase bewegte seinen Schlitten ganz langsam über den verwehten Sand auf dem Asphalt. Bedrohlich langsam. Es war, als hätte er keine Eile, Harry zu stellen. Als wollte er sagen: Wir haben dich sowieso gleich! Du hast keine Chance, wir lassen dich nur noch etwas zappeln!
    Da stürmte Harry los – Richtung Norddorf. Die kleinen Wege im Ortskern waren nicht alle mit dem Auto befahrbar. Dort hatte er vielleicht eine Chance. Als er den Kommissar mit einem Schlenker in den »Postwai« gerade abgehängt hatte, tauchte Hark Tadsen wieder auf. Jetzt waren sie zu zweit hinter ihm her. Harry rannte durch die Norddorfer Einkaufsstraße. Der röhrende »Jetta«, inzwischen wieder mit Blaulicht und Martinshorn, verfolgte ihn auch durch die menschenleere
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