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Kindersucher

Kindersucher

Titel: Kindersucher
Autoren: Paul Grossman
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EINS

Berlin, Oktober 1929

    »Ich werde euch Respekt lehren!« Die Peitsche der Schulmeisterin erzeugte Gänsehaut auf Kraus’ Beinen. »Runter mit den Unterhosen!«
    Unten auf der Bühne zitterten die nur mit Unterhosen bekleideten Jungen, als sich ihnen ihre Zuchtmeisterin in glänzenden, schwarzen Lederstiefeln näherte. »Bückt euch!« Sie ließ die Peitsche knallen. Welche andere Wahl hatten sie, als zu gehorchen, alles zu tun, was sie wollte? »Es ist nur zu eurem Besten!« Ihr kräftiger, weißer Arm hob sich. Als ihr Zorn auf sie herabfuhr, machte sich überbordende Heiterkeit im Admiralspalast breit, denn die traumatisierten Frechdachse auf der Bühne waren, wie das Scheinwerferlicht jetzt enthüllte, gar keine Frechdachse, sondern Männer in mittleren Jahren mit schlaffen, an Kartoffelsäcke erinnernden Kehrseiten.
    »Keine Scham, was? Keine Furcht vor Autorität?« Die Lehrerin kam allmählich in Fahrt. »Nehmt das, ihr nutzloses Gesindel! Und das. Und das!«
    Je härter sie zuschlug, desto begeisterter reagierte das Publikum. Diese Opfer liebten es ganz offensichtlich, versohlt zu werden, und die Perversion dieser Darbietung reizte offenbar ein kollektives, tief sitzendes Gefühl von Vergnügen. Außer in einigen wenigen, uninteressierten Seelen – wie der von Kraus. Oder der preußischen Baroness, die neben ihm saß und die Vorführung unbeweglich verfolgte, als wäre sie aus Gusseisen.
    »Also.« Schließlich nahm sie die Zigarettenspitze aus dem Mund. »Soweit hat euch also eure kostbare Freiheit gebracht, Fritz.« Ihr Kinn deutete wie eine Kanone auf ihren Gastgeber. »Seit dem antiken Rom hat die Welt eine solche Dekadenz nicht mehr erlebt.«
    »Sie vergeben mir sicher, Baroness, dass mich diese Darbietung Ihrer Aversion nicht sonderlich erschüttert.« Fritz’ blonder Schnurrbart kräuselte sich, als er spöttisch grinste.
    »Was sollte ich Ihrer Meinung nach denn tun?«, erwiderte die Baroness. »Mich errötend hinter meinem Ärmel verstecken?«
    Kraus saß eingeklemmt zwischen den beiden. Ihr Argument war stichhaltig, weil sie schlicht und einfach nichts hatte, wohinter sie sich hätte verstecken können. Sämtliche Damen trugen schulterfreie Abendgarderobe, auch die alte Baroness. Kein einziger Ärmel war zu sehen. Allerdings war das angesichts ihrer Oberarme eher ein Pyrrhus-Sieg, und als jetzt die Zuschauer erneut begeistert brüllten und die Schreie auf der Bühne zu einem unverkennbaren Gruppenhöhepunkt anschwollen, entrang sich ein lauter Seufzer ihrem juwelengeschmückten Busen.
    »Ein höchst unheilvolles Omen unserer Zeit.«
    Dann schob sie sich die Zigarettenspitze wieder zwischen die Zähne.
    Bei ihren Worten konnte sich Dr. von Hessler, der ihr gegenübersaß, kaum noch beherrschen. »Wie Sie wissen, Baroness, ändern sich die Zeiten. Noch vor zwei Jahrhunderten wäre es undenkbar gewesen, dass ein Prinz nach dem Dinner seinen Stuhlgang vollzogen hätte, ohne dass seine Gäste den königlichen Gestank mitbekommen hätten.«
    Die übrigen Gäste am Tisch erstarrten.
    Von Hessler war ein alter Schulfreund von Fritz und so etwas wie ein Wissenschaftler. Allerdings hielt er sich mit genaueren Erklärungen zurück. Kraus konnte nicht genau sagen, ob er tatsächlich ein Doktor war; aber jedes Mal, wenn sie sich begegneten, ließ von Hessler durchschimmern, dass er an einem »bahnbrechenden Werk« arbeitete. Ein ziemlich wichtigtuerischer Kauz, dachte Kraus, obwohl er nicht behaupten konnte, den Mann gut zu kennen, trotz ihrer gemeinsamen langen Bekanntschaft mit Fritz. Von Hessler war ebenfalls an der französischen Front gewesen. Nach dem Krieg hatte er die schwarze Klappe über dem Auge, das er in Verdun verloren hatte, durch eine aus Sterlingsilber ersetzt, die mit einem Lederband befestigt war. Das Silber war auf Hochglanz poliert, sodass man, wenn man mit ihm redete, immer eine Reflektion von sich selbst wahrnahm ... was recht merkwürdig war.
    »Und worauf wollen Sie mit diesem zauberhaften Bonmot hinaus?« Die Baroness lächelte gereizt. »Wollen Sie vielleicht andeuten, dass der Unterschied zwischen Tugend und Laster nur relativ ist, Herr Doktor?«
    Von Hessler hob bedauernd seine Handflächen.
    In diesem Augenblick bemerkte Kraus, wie Vicki ihn von der anderen Tischseite aus unter ihrem braunen Pony hinweg betrachtete. Grundgütiger Himmel, dachte er. Sie hatte ihn mitten beim Gähnen erwischt. Als sie den Kopf schief legte, als wollte sie damit fragen, ob es ihm gut ginge,
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