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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt
Autoren: dtv
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Messingkappe gedrückt, das in Bodennähe ein Stück aus der Schiffswand herausstand.
    »Wat hast’ denn da mit«, sagte der Fährmann mit dem roten Kopf. »Bilder oder wat soll dat sein.
    «Dabei glaubte Harry die Andeutung eines abschätzigen Grinsens zu erkennen.
    »Maler oder wie?« Er zog Schnodder hoch.
    »Jaja«, sagte Harry und hatte schon Probleme, dass überhaupt rauszubringen. Nervös schloss er die Neckermann-Tüte, wobei ihm das Amrumer Gastgeberverzeichnis erneut von den ›Feriengästen‹ herunterrutschte.

4
    Nach seiner Ankunft auf Amrum besorgte sich Harry in einer Drogerie in Wittdün Rasierzeug und eine Zahnbürste. Obwohl er noch Bargeld hatte, hob er in der nächsten Bank etwas ab. Solange sein Überziehungskredit nicht ausgeschöpft war, musste er das nutzen.
    In den Toilettenräumen des W.D.R. schloss er sich zunächst in einer der W C-Kabinen ein, um nach seinen Bildern zu sehen. Die Aquarelle waren unbeschädigt. Aber die ›Feriengäste‹ hatten eine deutliche Delle bekommen, genau auf der weißen Schirmmütze des in der Landschaft sitzenden Mannes. Vermutlich war das Bild auf der Fähre einmal heftig auf den Metallhahn gestoßen worden. Die Leinwand hatte zwar keinen |49| Riss, aber es war doch ein erheblicher Schaden an dem Bild entstanden. Ob es den Wert des Gemäldes schmälern würde, wusste er nicht. Auf den ersten Blick wirkte es nicht ganz so schlimm. Doch Harry ärgerte sich. In Zukunft musste er besser auf seine ›Feriengäste‹ aufpassen.
    Nachdem er die Bilder wieder in die Plastiktüte gepackt hatte, putzte er sich an dem kleinen schmuddeligen Waschbecken die Zähne. Er seifte sich den Bart mit der Flüssigkeit aus dem Seifenspender ein und rasierte sich mit der Einmalklinge seinen Vierzehntagebart ab. Die Haut war gerötet, besonders an den Aknenarben. Ein Rentner in einer grauen Jacke und mit einer Prinz-Heinrich-Mütze betrat die Toilettenräume. Er musterte Harry kritisch, verschwand eine Weile zum Pinkeln und verließ dann schlurfend und unfreundlich etwas Unverständliches murmelnd das W.D.R.-Klo.
    Harry wischte sich mit einem grünen Papiertuch den restlichen Seifenschaum aus dem Gesicht. Er fand, er sah auch nicht besser aus als vor der Rasur. Er war übernächtigt, seine Augen waren gerötet, und er hatte den penetranten Geruch der billigen Flüssigseife in der Nase. Sie roch eigentlich nicht anders als die grünen Spülsteine im Pissoir.
    Nachdem er in Wittdün fast eine Stunde auf den Bus gewartet hatte, fuhr er nach Nebel. Er ging den Uasterstigh entlang, vorbei an den geduckten alten Friesenhäusern mit Rosen und Stockrosen neben den farbig bemalten Holztüren. Obwohl er seit vielen Jahren nicht mehr auf Amrum gewesen war, kam ihm dies |50| alles sehr vertraut vor. Als Kind war er oft auf der Insel gewesen. Als er noch bei seiner Mutter wohnte, zusammen mit ständig wechselnden Leuten in einer großen Wohnung in Winterhude mit beängstigend dunklen hohen Räumen und dem Rumpeln der vorbeifahrenden U-Bahn , war er zweimal an die Nordsee verschickt worden.
    Diese Verschickungen ins Wittdüner Kinderheim waren ein einziger Alptraum gewesen. Er selbst kam ja auch nicht aus normalen Familienverhältnissen. Aber die größeren Jungs aus Mümmelmannsberg oder dem Märkischen Viertel machten ihm Angst mit ihrem provokant falschen Deutsch und der latenten Gewaltbereitschaft. Er und ein Leidensgenosse hatten regelmäßig die Tage bis zum Ende ihrer langen Wochen im Ferienlager gezählt. Besonders den Pfefferminztee und die glasigen Sagokörnchen in den Nachspeisen aus dicken weißen Schalen verband er immer noch mit dem Gefühl von Heimweh. Danach hatte er abgenommen und erst richtig zu stottern begonnen. Seine Mutter war währenddessen mit dem Rucksack und in roten Pluderhosen quer durch die ganze Welt unterwegs, bis sie dann irgendwann ganz nach Indien entschwand.
    Danach hatte er bei seiner Großmutter in der Nähe des Othmarscher Bahnhofs gelebt, wo er statt der U-Bahn die S-Bahn hörte. Auch seine Oma war mit ihm an die Nordsee gefahren, nach Föhr und nach Amrum. Im Gegensatz zu den Kinderverschickungen waren das idyllische Ferien gewesen. Harry hatte sommerliche Lesenachmittage im Strandkorb in Erinnerung |51| , die karierten Gardinen in dem kleinen, durch dickes Reet eingerahmten Gaubenfenster und den Geruch an den Fingern nach endlosem Krabbenpulen.
     
    Es hatte aufgehört zu regnen. Aber der Wind wehte immer noch heftig von Nordwest. Manchmal kam kurz die
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