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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt
Autoren: dtv
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Frau zu beruhigen.
    »Willst du ’n paar vor’n Kopp haben oder wat«, wurde der Mann mit der weißen W.D.R.-Mütze jetzt deutlicher und stellte sich noch etwas breitbeiniger neben dem Ford auf.
    »Geht das hier jetzt langsam mal weiter«, rief sein Kollege ungeduldig vom Autodeck des Schiffs herüber, der dort für das Einweisen der Wagen zuständig war.
    »Immer mit der Ruhe!«
    Darauf wurde der Kombi aus SFA dann doch abgefertigt und, ohne von dem Kartenkontrolleur eines weiteren Blickes gewürdigt zu werden, mit einer kurzen Handbewegung auf die Rampe gewunken.
    »Scheißtouristen«, sagte der Fährmann, als er Harrys Fahrkarte lochte. Dabei guckte er ihn provozierend an und gurgelte. »Grrörrch.«
     
    Die Überfahrt erschien ihm endlos lang. Der Sturm schüttete den Regen wie aus Eimern immer wieder an die Schiffsfenster. Alles schien in Zeitlupe zu gehen. Das »Moin« des Kellners kam Harry langgezogen und verlangsamt vor, wie ein Tonband in der falschen Geschwindigkeit. Nach der letzten Nacht, in der er übernervös jede Kleinigkeit registriert hatte, nahm er jetzt alle Geräusche gedämpft wahr, als wären seine Ohren verstopft. Das Friesenfrühstück brauchte ewig, bis der Kellner es endlich wortlos im Schneckentempo servierte. Zunächst hatte Harry sich noch prüfend umgesehen, |46| ob ihn jemand beobachtete. Doch die Familie mit dem Kleinkind am Nebentisch und eine Rentnergruppe in einheitlichen grauen Regenjacken, die in aller Ausführlichkeit die Preise der Nebensaison diskutierten, zeigten wenig Interesse an ihm. Ein paar einheimische Geschäftsleute blätterten und rechneten in Prospekten und Aktenordnern. Harry überfiel eine bleierne Schwere, wie immer nach dem ersten Tag an der Nordsee. Nur diesmal noch heftiger.
    »Auf der Hinfahrt ist man immer in einer vollkommen anderen Stimmung als auf der Rückreise«, hörte er eine Frau am Nebentisch noch sagen. Aber ihre Stimme klang schon wie aus weiter Ferne.
    Nachdem die Fähre bei ihrer Zwischenstation in Wyk abgelegt hatte, döste er über dem Amrumer Gastgeberverzeichnis ein, bis das Kleinkind am Nebentisch wieder munter wurde und dann, als es sich die braunen Kügelchen der Hydrokultur einverleibte, auch seine Eltern. Als Harry aufwachte, hatte er Durst und einen schlechten Geschmack vom Matjes im Mund. Einer der Rentner erzählte zum wiederholten Mal, dass er an der Costa del Sol auch schon »auf deutsch gesagt, ziemliches Scheißwetter« erlebt hätte. Ein anderer antwortete darauf immer wieder mit dem Witz, dass es kein schlechtes Wetter, sondern nur falsche Kleidung gäbe. Kurz vor Amrum kam der Ober, um in Zeitlupe das »kleine Friesenfrühstück« abzukassieren.
    Das Anlegemanöver an der Mole von Wittdün brauchte bei diesem stürmischen Wetter eine ganze Weile. Während Harry auf dem Autodeck darauf wartete, dass die befahrbare Rampe polternd heruntergeklappt |47| wurde, stand schon wieder der »nette« Fährmann da, diesmal ganz dicht neben ihm. Sein Gesicht war immer noch krebsrot, nicht vor Wut, sondern anscheinend von der Seeluft oder vom Alkohol. Trotz des starken Windes konnte Harry deutlich seine Fahne riechen. Außerdem stank der Typ nach altem Fisch. Unter der schmuddeligen weißen Schiffermütze mit dem schwarzen Schirm und dem Flaggenemblem der W.D.R. schauten gelbliche Haare heraus. Sein Blick aus den himmelblauen, leicht glasigen Augen wirkte auf Harry schon wieder provozierend.
    »Mensch, Junge, pass bloß auf, dass dir deine Tüte nicht wegweht«, raunzte er Harry an, der seine Neckermann-Tüte kurz abgestellt hatte, um den Reißverschluss seines Anoraks hochzuziehen.
    Während der Fährfahrt hatte er die Bilder in einige herausgerissene Seiten aus dem Amrumer Gastgeberverzeichnis, das auf der Fähre auslag, notdürftig eingeschlagen. Ein kräftiger Windstoß wehte kurz in die auf dem Boden stehende Tüte hinein. Das Gastgeberverzeichnis wehte halb heraus und legte die ›Feriengäste‹ unerwartet frei. Für einen kurzen Moment waren zwei der drei Frauen in Sommerkleidern und der Mann mit der weißen Schirmmütze ganz deutlich zu sehen. Harry reagierte blitzschnell und wollte die Tüte schließen und den Prospekt notdürftig über das Bild legen. In diesem Moment rammte eine hektische Mutter, deren Kind sich gerade mit ausgestreckten Händchen an einer Autostoßstange entlanghangelte, von hinten den leeren Kinderwagen in die Bilder. Die gesamte Tüte wurde gegen ein weiß lackiertes Metallrohr mit einer |48| spakigen
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