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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt
Autoren: dtv
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im Innern des Wagens eine ›Bild‹-Zeitung entdeckte, die etliche Monate alt war, war er sich sicher, dass der Wagen zurzeit nicht benutzt wurde. Ihm war gleich die Schlagzeile »Boris wie ein Donnergott« ins Auge gefallen. Boris Beckers Halbfinalsieg gegen Ivan Lendl in Wimbledon war fast ein halbes Jahr her. Eine Baustelle konnte er in der Nähe auch nicht entdecken.
    Er versteckte das Fahrrad in einem trockenen, mit hohen Gräsern zugewachsenen Graben zwischen dem Bauwagen und dem Deich. Drinnen setzte er sich auf eine Holzbank vor den schmalen Tisch, auf dem drei leere Bierflaschen standen, eine mit Wachs auf einem Stück Pappe befestigte Kerze und eine zum Aschenbecher umfunktionierte Konservendose voller Kippen. Es roch muffig. An den Wänden hingen schmutzige Sicherheitswesten, und in einer Ecke standen zwei Blinkleuchten und einige übereinandergestapelte Verkehrshüte. Harry räumte die leere Stanniolverpackung einer Dauerwurst und eine alte Zigarettenschachtel beiseite.
    Vorsichtig zog er die Noldes aus der Plastiktüte und begutachtete sie im Schein seiner Taschenlampe. Die Kerze wollte er nicht anzünden, um von außen nicht durch ein erleuchtetes Fenster aufzufallen. Aber seine Stablampe musste er doch kurz anknipsen, um die Bilder anzusehen. Harry kam es gänzlich unwirklich vor. Auf diesem Resopaltisch zwischen stinkenden Kippen |37| und einer alten ›Bild‹-Zeitung lagen vier echte Noldes, die in dem schmuddeligen Bauwagen eine überirdische Leuchtkraft entwickelten. Aber ganz wohl war ihm dabei nicht. Schnell knipste er die Taschenlampe wieder aus.
    Harry zündete sich eine Zigarette an. Er musste wieder an die Putzfrau denken. Mein Gott, er hatte nur ein Bild klauen wollen. Aber dabei sollte doch niemand zu Tode kommen. Das Blut auf dem Teppich hatte gefährlich ausgesehen. Hoffentlich bedeutete die Anwesenheit eines Unfallwagens, dass sie noch lebte. Er überlegte fieberhaft, welche Straßen und Bahnhöfe der Umgebung von der Polizei kontrolliert werden würden. Den Kadett konnte er jedenfalls abschreiben. Das Kennzeichen würde die Polizei auf eine falsche Spur locken. Aber irgendwann in den nächsten Tagen müsste er Ingo Warncke wohl mal anrufen, der sich sowieso schon gewundert hatte, was er mit einem nicht zugelassenen Schrottwagen wollte.
    Ingo war in seinen Nolde-Coup nicht eingeweiht. Aber so etwas konnte man durchaus mit ihm besprechen, ohne Angst haben zu müssen, dass er ihn gleich auffliegen lassen würde. Seinetwegen, das heißt wegen der üppig gedeihenden Topfpflanzen auf der Fensterbank ihrer gemeinsamen Wohnung, hatten sie immer mal wieder die Polizei im Haus gehabt. Den Beamten auf St. Pauli konnte man Marihuana nicht als harmlose Zimmerpalme verkaufen, wie Ingo das in seiner Jugend in der westfälischen Provinz gemacht hatte.
    Seit knapp zwei Jahren teilten sie sich als Zweckwohngemeinschaft eine Dreieinhalbzimmerwohnung |38| in der Taubenstraße, gleich um die Ecke zur Reeperbahn. Aus den beiden vorderen Zimmern guckte man auf die gegenüberliegende Tankstelle, und aus Ingos Fenster war immerhin der Michel zu sehen. Die Wohnung war geräumig, billig und total versifft. Am schlimmsten war das mit olivgrünen Reliefkacheln geflieste Bad und dort wiederum eine nachträglich hineingestellte Dusche mit einem asthmatisch klingenden Saugmechanismus. Aus dem grünlich korrodierten Duschkopf kam nur ein druckloses Rinnsal, und aus dem Abfluss schwappte, nachdem man den Saugmechanismus abgestellt hatte, mit einem satten Rülpser regelmäßig brackiges Duschwasser mit ein paar Haarresten hoch. Das waren vor allem die Haare von Ingos häufig wechselnden Damenbekanntschaften, da war sich Harry ganz sicher. Vereinzelt dazwischen waren deutlich ein paar von Ingos kurzen orange eingefärbten Stoppeln zu erkennen.
    Ingo, der als Gitarrist wechselnder Bands auf den großen Durchbruch wartete und sich derweil mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt, ging Harry zunehmend auf den Wecker. Er weigerte sich strikt, auch mal einen Abwasch zu übernehmen. Stattdessen lief er von morgens bis abends mit seiner umgehängten schwarzen Stratocaster, die dankenswerterweise nicht an einen Verstärker angeschlossen war, in der Wohnung herum. Aber wenn sie ab und zu zusammen soffen, verstanden sie sich gut, zumal sie beide auf gute Weine Wert legten. Wenn sie vorübergehend zu Geld gekommen waren, dinierten sie ausgiebig, gern auch zusammen mit Ingos flüchtigen Freundinnen.
    |39| Auf dem nicht besonders
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