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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt
Autoren: dtv
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im blauen Kittel, aber ohne Cordhut, über den Hof zum Haupthaus laufen. Ansonsten war alles menschenleer, die Auffahrt zum Museum und die Straßen. Solange er keine Autos kommen sah, konnte er auf dem Rad immer weiterfahren gegen den Wind unter den schnell dahinziehenden Wolken. Aber wohin eigentlich?
    Ursprünglich hatte er heute in der Nacht noch mit dem Auto nach Hamburg zurückfahren wollen. Dann hätte er ein paar Sachen zusammengepackt und den ersten Flug nach New York genommen, zusammen mit den ›Feriengästen‹, eingebaut in einen Hartschalenkoffer.
    Mit dem klapprigen Rad aus dem Nolde-Museum würde er Hamburg heute nicht mehr erreichen. Aber zumindest wollte er ein paar Kilometer zwischen sich und das Museums bringen. Am Deich entlang kämpfte er gegen den Wind an, der wie immer beim Radfahren von vorne kam.
    Noch bevor er im Sturm die Sirene hören konnte, sah Harry das Blaulicht, das sein Leuchten kilometerweit über die Landschaft warf. Der Wagen kam ihm offensichtlich aus Richtung Niebüll entgegen. In hohem Tempo flog das gespenstische blaue Licht die parallel laufende Landstraße entlang, bis es die Abzweigung |34| zum Nolde-Museum erreichte. Das Martinshorn heulte dabei nur zwei- oder dreimal kurz auf. Harry verfolgte das Blaulicht, das kurz hinter den Bäumen der Auffahrt zum Museum verschwand und schließlich, wieder weithin sichtbar, direkt vor dem Nolde-Haus stehen blieb.
    Harry kam kaum voran. Der Wind kam jetzt direkt von vorn. Als ein plötzlicher Schauer einsetzte, der ihm waagerecht kalte Regentropfen ins Gesicht peitschte, suchte er schnell unter dem größeren Dachüberstand eines Schuppens Zuflucht. Vor allem sorgte er sich um die Aquarelle, die natürlich absolut keine Feuchtigkeit vertrugen. Der hohe Schuppen, in dem wahrscheinlich Traktoren und allerlei Gerätschaften Platz fanden, gehörte zu einem Hof, dessen Fenster alle dunkel waren. Nicht das kleinste Licht brannte. Alles wirkte unbewohnt und verlassen.
    Besorgt überprüfte Harry die Bilder. Die Taschenlampe mochte er nicht herausholen. Soweit er es in der Dunkelheit sehen konnte, hatten die Aquarelle den Regen unbeschadet überstanden. Harry steckte die drei ›Ungemalten Bilder‹ zusätzlich in eine zweite dünnere Plastiktüte. Mit einem Taschentuch wischte er vorsichtshalber noch einmal die große Tüte aus, ehe er alles wieder hineinpackte. Er zündete sich eine Chesterfield an. Die Würze des Tabaks überlagerte das alte Bratfett aus Husum, nach dem er noch einmal aufstoßen musste. Von seinem Unterstand aus beobachtete Harry in weiter Ferne ein zweites Auto mit Blaulicht und diesmal auch mit fast durchgehendem Martinshorn, wahrscheinlich ein Krankenwagen. Die Putzfrau |35| mit der feinen Dauerwelle hatte berechtigte Hoffnung, gerettet zu werden. Hinter Harry aber waren sie jetzt her.
    Während er sich mühsam vom Tatort entfernte, suchte die Polizei inzwischen ohne Blaulicht die Gegend ab und hatte offensichtlich seinen Kadett entdeckt. In der Nähe des Feldweges, wo er den schrottreifen Opel abgestellt hatte, sah er ein Auto mit aufgeblendeten Scheinwerfern. Er war heilfroh, dass er den Wagen stehen gelassen hatte, sonst wäre er möglicherweise geschnappt worden. Wahrscheinlich gab es bereits Straßenkontrollen rund um Niebüll.
    Der Wind hatte sich etwas gelegt. Es regnete nicht mehr. Im Mondlicht entstanden immer wieder andere dramatische Wolkenbilder am Himmel. In dem fahlen Licht leuchteten Schafe als helle Punkte auf dem Deich, an dem Harry, mit leichtem Rückenwind, jetzt auf einmal fast wie von selbst entlangfegte. Die krummen, naturbelassenen Holzpfähle der Weideumzäunung schienen jetzt vorbeizufliegen. Doch plötzlich war er sich unsicher, ob er sich nicht im Kreis bewegte. Die beiden Autos, deren Scheinwerferpaare er immer wieder von fern sah und die offensichtlich nach ihm suchten, veränderten ständig ihre Fahrtrichtung. Irgendwann, er hatte nur lange genug in die Pedale treten müssen, waren sie verschwunden.
    Auf halber Strecke zwischen Klanxbüll und Emmelsbüll fand er einen offenen Bauwagen, eine schmutzig graue Bude auf zwei Rädern mit einem gewölbten angerosteten Dach, dem üblichen kleinen Schornstein und einem runden »2 5-km /h«-Schild am Heck. Der |36| Wagen war nicht verschlossen. Zunächst erschien es ihm zu riskant, dort für ein paar Stunden unterzukriechen und vielleicht schlafend von früh anrückenden Bauarbeitern überrascht zu werden. Als er aber auf dem schmierigen Resopaltisch
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