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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt
Autoren: dtv
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klappte er den Klodeckel herunter, setzte sich und wartete ab.
    Vor drei Wochen hatte er das Museum ausführlich inspiziert. Zu dem Zeitpunkt hatte es zahlreiche Besucher gegeben, unter anderem eine Schulklasse, die in den engen Räumen für einigen Trubel sorgte und von ihrer Lehrerin immer wieder zur Ordnung gerufen werden musste. So konnte sich Harry, ohne sonderlich aufzufallen, in aller Ruhe umsehen. Bei diesem Besuch hatte er auch den kleinen Abstellraum entdeckt, in dem Reinigungs- und Renovierungsutensilien, alte Farbdosen, Pappschachteln mit Nägeln, Schrauben und Ösen, Holzleisten und Drahtschnüre zum Aufhängen von Bildern aufbewahrt wurden.
    Und er hatte in Erfahrung gebracht, was nach der Schließung des Museums passierte. Pünktlich zum Ende der Öffnungszeit fuhr die Putzfrau des Museums vor dem Nolde-Haus vor. Aus einem türkisfarbenen Polo stieg eine alterslos wirkende kleine Frau mit einer zu großen Brille und einer filzartigen Dauerwelle. Ihr dürrer Körper steckte in einem weiten Pullover, aus dem dunkle Leggings stakten. Kurz darauf verließen die Kassenfrau, vor drei Wochen bei deutlich wärmerem Wetter ohne Wollponcho, und ihre Kollegin |25| von der Postkartentheke das Museum. In einem japanischen Kleinwagen fuhren sie mit aufheulendem Motor, aber langsam, im viel zu hoch ausgefahrenen ersten Gang die Auffahrt zur Landstraße hinunter. Die Tür des Museums blieb währenddessen unverschlossen.
    Diesen Ablauf hatte Harry sich die Tage darauf noch einige Male angesehen, ohne das Museum zu besuchen, nur mit dem Fernglas von der nahe gelegenen Weide aus. Der Vorgang war immer derselbe gewesen.
    Vorher bei seiner ersten Erkundung hatte er auch mal probehalber die Alarmanlage im Museum ausgelöst. Als die Schulklasse gerade besonders laut durch die Räume tobte, hatte er den schweren Rahmen des Bildes ›Badende mit roten Haaren‹ von 1912 ein Stück von der Wand gezogen. Sofort war ein schrilles Alarmsignal ertönt, worauf die Kinder noch unruhiger geworden waren. Dadurch war der Verdacht auf die Schüler gefallen und nicht auf Harry, der den Raum mit der ›Badenden‹ sofort verlassen hatte.
    »Nee, nee, dat müssen gar nich die Kinder gewesen sein«, beruhigte der Hausmeister, der wenige Minuten später erschienen war und den schrillen Alarmton abgestellt hatte, die auf die Kinder einschimpfende Kassiererin und die sich hektisch verteidigende Lehrerin.
    »Dat passiert manchmal wie von selbst.« Sein voluminöser Oberkörper steckte in einem knallblauen Kittel, so blau wie Noldes ›Iris‹. Er hatte einen auffällig kleinen Kopf mit einem Cordhut darauf und einen gutmütigen Gesichtsausdruck.
    |26| »Keine Ahnung wieso. Aber wie oft is dat Ding schon nachts losgegangen! Grad in letzter Zeit.«
    Das war für Harry ein wichtiger Hinweis. Bei Gelegenheitsjobs als Museumsführer hatte er sich besonders für Alarmanlagen interessiert und vor allem auch dafür, wie nachlässig halbwegs sichere Systeme bedient wurden.
     
    Bis hierhin war wirklich alles so gelaufen, wie er es geplant hatte. Er hatte auf der Herrentoilette gewartet, bis der Wollponcho mit Kollegin das Museum verließ. Er konnte es durch das schmale, einen Spalt weit geöffnete Milchglasfenster über der Pissrinne nur erahnen. Aber er hörte ihre Schritte auf dem Kies, eine Unterhaltung, die er nicht verstehen konnte, und das wieder viel zu weit durchgetretene Gas des Autos. Er hatte den Zeitpunkt abgewartet, an dem die Putzfrau in dem Atelierraum mit Noldes Kreuzigungs-Triptychon den Staubsauger anwarf. In diesem Moment betrat er das eigentliche Nolde-Haus wieder. Er schlich vorsichtig die gefährlich knarzende Holztreppe hinauf zu der ›Badenden mit den roten Haaren‹. Er holte die Handschuhe aus seiner Plastiktüte, streifte sie über und bewegte den Rahmen, wie er es vor drei Wochen gemacht hatte, und während der Alarm losschrillte, verschwand er schnell in dem nahe gelegenen Abstellraum mit den Werkzeugregalen.
    »Dat gibt’s doch nich. Ich hab doch bloß den Boden gemacht«, hörte Harry die heisere Stimme einer langjährigen Raucherin auf Friesisch sagen. Sonderlich aufgeregt wirkte sie nicht. Sie verließ das Haupthaus |27| und kam nach einigen Minuten mit dem Hausmeister zurück.
    »Zu der Alarmanlage sach ich gar nichts mehr«, hörte Harry, der neben zwei Holzböcken und einer Stellwand mit Plakaten früherer Nolde-Ausstellungen lauschend auf dem Boden saß, den Hausmeister.
    »Ich hab das denen von der Stiftung immer
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