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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt
Autoren: dtv
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hatte er seine Grundsätze. Für die ›Feriengäste‹ hatte er sich entschieden, weil ihm die Wucht gefiel, mit der Nolde das eigentlich konventionelle Sujet auf den Kopf gestellt hatte. Die danebenhängende ›Blaue Iris‹ war ihm zu gefällig, obwohl sie auf dem Markt sicher mehr Geld gebracht hätte, ein Postkartenmotiv wie viele von Noldes Blumenbildern. Für die ›Feriengäste‹ war ihm außerdem schon ein Abnehmer in Aussicht gestellt worden, ein anonymer Amerikaner, der deutschen Expressionismus sammelte. Der Kontakt sollte über einen etwas dubiosen Galeristen in New York laufen, von dem er bislang lediglich eine Adresse in der Lower East Side hatte.
    Wie in Trance irrte Harry durch die Räume. Mehrmals lächelte ihn der Mann in der Tweedjacke unmotiviert an, während seine Frau grimmig wegguckte. Jetzt hätte er gern eine Zigarette geraucht. Aber zum Rauchen das Museum zu verlassen, wäre ihm zu auffällig gewesen. Ab und zu stieß ihm das alte Fett des Schaschliks auf, das er auf dem Weg in einer Imbissbude in der Nähe von Husum gegessen hatte.
    Immer wieder sah er auf seine Uhr. Auf die Kunst |22| konnte er sich kaum konzentrieren. Nur die kleinen ›Ungemalten Bilder‹, die ja tatsächlich in jede Aktentasche passten, nahm er noch einmal sehr genau in Augenschein. Spontan entschied er sich für zwei Meer und Wolkenaquarelle in Kobaltblau, Rotorange und Schwarzviolett, außerdem das Bild ›Seltsames Paar‹, zwei fleckig schemenhafte Fratzen in Blau- und Rottönen, in das er sich bei seinem letzten Besuch gleich verguckt hatte. Wenn er schon einmal hier war, warum sollte er die drei kleinen ›Ungemalten‹ nicht ebenfalls einfach mitnehmen?
    Kurz vor siebzehn Uhr konnte er dann endlich das Programm starten, das er in den letzten Tagen immer wieder vor seinem inneren Auge abgespult hatte. Er passierte die Frau mit dem Wollponcho an der Kasse mit einem flüchtig genuschelten »Wiedersehn«.
    »Na, haben Sie es ja doch noch geschafft.« Dabei guckte sie ihm kurz über ihre Brille hinterher, während sie damit beschäftigt war, ihre Kasse abzurechnen und Blöcke mit Eintrittskarten in Schubladen zu verstauen.
    »Das WC ist, glaube ich, draußen im Nebengebäude?«, fragte Harry schon halb im Hinuntergehen, obwohl er es natürlich genau wusste.
    »Herren, aus der Tür raus, gleich rechts.«
    Ohne es benutzt zu haben, betätigte Harry die Spülung des Pissoirs. Er ließ den Wasserhahn für einen kurzen Moment laufen, ohne sich die Hände nass zu machen. Als er sich im Spiegel sah mit der dunklen Brille, dem unregelmäßig, fusselig gewachsenen Bart und den lächerlich ins Gesicht gekämmten Haaren, |23| wurde ihm noch einmal klar, wie unwirklich die ganze Situation war. Es gab immer noch die Chance, die Sache abzublasen und das Museum einfach zu verlassen.
     
    Der Nolde war Harrys erster Coup. Dabei hatte die bildende Kunst ihn schon früher auf Abwege geführt. Es hatte damit begonnen, dass er im Kunstunterricht von den modernen Meistern abkupferte. Besonders perfekt imitierte er damals schon den deutschen Expressionismus. Das hatte ihm etliche gute Zensuren eingebracht, bis der Kunstlehrer ihn bei der Kopie eines bekannten Holzschnittes von Heckel erwischte. Als Abiturient hatte er seinen ersten erfolgreichen Diebstahl begangen. Auf einer Party im Haus einer Blankeneser Kaufmannsfamilie, mit deren Töchtern ein Klassenkamerad befreundet war, entwendete er eine kleine Klee-Grafik, deren sicher viel zu niedriger Erlös bei einem windigen Hehler ihm immerhin zu einem gebrauchten Triumph »Spitfire« mit einem durchgerosteten Unterboden verholfen hatte. Das schöne schlichte Haus des Südfrüchteimporteurs hing von oben bis unten voll mit Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts: echte Beckmanns, Kirchners und sogar ein Picasso. Keine großen Ölgemälde, sondern vor allem Grafik. Aber Harry war tief beeindruckt. Zu fortgeschrittener Stunde der wilden Feier, die natürlich in Abwesenheit der Eltern stattfand und bei der ein ständiges Kommen und Gehen herrschte, hatte er im Bügelzimmer die Klee-Radierung, die er sich bei einem früheren Besuch ausgeguckt hatte, mit einer von ihm |24| vorbereiteten Kopie ausgetauscht. Sein Diebstahl war, soweit er wusste, nie aufgefallen. Die Geschichte hatte ihm Mut gemacht.
     
    Harry sah in den Spiegel. Statt die Toilette zu verlassen und unverrichteter Dinge nach Hause zu fahren, strich er sich durchs Haar, damit er nicht mehr ganz so albern aussah. In einer der Kabinen
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