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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt
Autoren: dtv
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Scheitel wieder auf den Kragen gefallen. Und auf einmal glaubt Harry zu wissen, warum ihm der Typ mit dem graublonden Bart und den Mäusezähnen, der jetzt als Erster das Schiff verlässt, bekannt vorkommt.

2
    Damals vor achtzehn Jahren war anfangs alles so gelaufen, wie Harry es sich vorgestellt hatte. Das Auto, einen unangemeldeten Kadett, braunmetallic, mit Heckspoiler und falschen Pinneberger Nummernschildern, hatte ihm ein Bekannter seines Mitbewohners besorgt. Diese vorgebliche Kneipenbekanntschaft von Ingo Warncke betrieb auf einem Industriegelände in Eidelstedt einen dubiosen An- und Verkauf von Autos, deren Fahrgestellnummern nicht unbedingt zu den Papieren passten. Den durchgerosteten Opel, dessen Maschine angeblich noch zuverlässig lief und den er am nächsten Tag gleich wieder zurückbringen wollte, hatte er in einem von Buschwerk gesäumten Feldweg abgestellt, etwa einen Kilometer vom Museum in Seebüll entfernt, das völlig einsam in der weiten baumlosen Landschaft stand. Auf einer kleinen Warft gab es einen alten Reetdachhof. Gleich daneben den dunkelroten |19| kubischen Backsteinbau, den Nolde hier Ende der Zwanzigerjahre selbst gebaut und dann auch bewohnt hatte. Bald nach seinem Tode 1956 war das Haus Museum geworden.
    Vom Auto war Harry zu Fuß gegangen, ein Stück die Landstraße zwischen Neukirchen und Krakebüll entlang und dann die lange Auffahrt von der Straße zum Museum. Das stürmische Herbstwetter trieb gewaltige Wolkenformationen über den Himmel, wie auf einem Nolde-Bild. Ausgerechnet auf seinem Fußweg gab es einen kurzen Schauer. Hier bei diesem Wetter als Fußgänger unterwegs zu sein, war schon ungewöhnlich. Aber auf der kleinen Allee kamen ihm nur abfahrende Museumsbesucher in einem Auto mit auswärtigem Kennzeichen entgegen. Eigentlich niemand, dem er verdächtig vorkommen musste. Dass die Innentaschen seines Anoraks neben einer Chesterfield-Schachtel zwei kleine Zangen, Schraubenzieher, weiße Baumwollhandschuhe, ein Teppichmesser, Taschenlampe und eine große Neckermann-Plastiktüte verbargen, konnte schließlich niemand erkennen.
    Für sein Vorhaben hatte Harry sich dunkle Klamotten besorgt, einen anthrazitblauen Anorak, schwarze Jeans, einen schwarzen Rollkragenpullover und dunkle Sportschuhe. Außerdem hatte er sich in den letzten vierzehn Tagen einen Bart wachsen lassen und seine Frisur verändert, indem er sich die längeren Haare etwas ins Gesicht fallen ließ.
    Er trug eine getönte Brille, mit der er sich richtig verkleidet vorkam. Aber gerade das gab ihm die Sicherheit und den Mut, sein unglaubliches Vorhaben in |20| Angriff zu nehmen. Kurz bevor er das Museum betrat, hatte er noch überlegt, die Sonnenbrille abzunehmen und sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen, die Ausstellung anzugucken wie ein normaler Besucher und ganz entspannt wieder nach Hause zu fahren. Aber er hatte die Brille aufbehalten, als er seine Eintrittskarte löste.
    »Um siebzehn Uhr schließen wir«, rief ihm die Frau an der Kasse gleich triumphierend entgegen, die eine rote Lesebrille an einer Kette und einen grob gewebten Wollponcho mit den Ausmaßen eines Flokatiteppichs trug.
    »Ich hab’s gesehen«, sagte Harry. »Aber das lohnt sich doch noch, oder?«
    »Ich sach’s nur«, entgegnete der Wollponcho. »Normaler Erwachsener?«
    »Ganz normal«, sagte Harry, dem diese Konversation eigentlich schon viel zu auffällig war.
    »Einmal Erwachsener.« Die Frau, die ihre Brille jetzt auf der Nase hatte, schob ihm die Eintrittskarte über den kleinen Kassentisch zu.
    Harry ging benommen die einzelnen Ausstellungsräume ab. Neben einem älteren Paar, einer Frau mit grauem Bubikopf und dicker Holzkette um den Hals und einem ständig etwas wirr lächelnden Mann in einem abgetragenen Tweedjackett, war er offenbar der einzige Besucher. Er überzeugte sich, dass das Bild, auf das er es abgesehen hatte, an seinem Platz war. Da hingen sie, in dem sogenannten »Bildersaal« im ersten Stock, an der Wand gegenüber der Tür als drittes Bild von links zwischen der sattroten ›Nordermühle‹ und |21| der berühmten ›Blauen Iris‹: die in sommerlich klaren Farben, mit dickem Ölstrich herrlich lässig hingehauenen drei Frauen in Sommerkleidern und der Mann mit der weißen Schirmmütze, Emil Noldes ›Feriengäste‹ von 1911.   Harry blieb wie elektrisiert stehen, nicht vor dem Bild, sondern mitten im Raum, um ja keinen Verdacht zu erregen. Er traute sich kaum, das Bild näher anzusehen.
    Auch als Dieb
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