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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt
Autoren: dtv
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darunter auch etliche Bilder von Emil Nolde: Vor allem Blumenaquarelle, aber auch rot-gelb brennende Wolkengebilde über der Nordsee, ein violett oder türkis leuchtendes Meer, dann wieder schwarz-blaue Wellen mit grellweißen Schaumkronen. Das war seine erste Kunsterziehung gewesen.
     
    Die Räume in dem kleinen Museum waren schnell besichtigt. Im Erdgeschoss Noldes ehemaliges Atelier mit dem großen biblischen Triptychon. In den Fluren und den zu kleinen Kabinetten umgebauten Wohnräumen im ersten Stock hingen dicht aneinander die ›Ungemalten Bilder‹, kleinformatige Aquarelle, die Nolde, der während der Nazizeit nicht malen durfte, schnell vor seinen Verfolgern verstecken konnte. Er hatte sich auf Aquarelle verlegt, damit ihn der Geruch von Ölfarbe nicht verraten konnte. Tausenddreihundert dieser Bilder soll Nolde zwischen 1938 und 1945 gemalt haben.
    Als sie den letzten verbleibenden Raum betraten, den sogenannten »Bildersaal« mit dem Glasdach, in dem die Gemälde in zwei Reihen übereinandergehängt waren, trafes Harry wie ein Schlag.
    »Das ist dein Bild«, zischte Zoe ihm zu.
    Das konnte eigentlich nicht sein. Aber dort hingen die ›Feriengäste‹. Und darunter wie schon damals ein Schild: »Leihgabe aus Privatbesitz«. Harry wurde fast etwas schwindelig, sodass er die drei sitzenden Frauen in Sommerkleidern und den Mann mit weißer Schirmmütze in der farbigen norddeutschen Landschaft nur noch flimmernd wahrnahm. Als hätte er zu viel getrunken. |16| Die orange leuchtenden Haare der Frau in dem weißen Kleid begannen vor dem blauen Zaun im Hintergrund kurz zu flirren. Die Gesichter wurden unscharf. Und ihm war, als hätte die Frau in der Mitte, die den Betrachter mit zur Seite geneigtem Kopf ansieht, ihren roten Mund für einen kurzen Augenblick zu einem spöttischen Lächeln verzogen.
    Aber dann hatte Harry sich schnell wieder gefasst. Er besah sich das Ölbild von ganz nahem, insbesondere die weiße Schirmmütze des männlichen Feriengastes.
    »Das Bild ist nicht echt«, sagte er schließlich bestimmt und etwas besserwisserisch.
    Zoe sah ihn verschwörerisch fragend an und rückte sich die Sonnenbrille, die sie sich ins Haar geschoben hatte, zurecht.
    »Are you sure?«, flüsterte sie. »Woran siehst du das so schnell?«
    »Die Schirmmütze des Mannes.«
    »Schirm-muutze«, wiederholte sie langsam mit ihrem amerikanischen Akzent. »What means Schirmmutze?«
    Eigentlich spricht Zoe gut Deutsch. Harry besteht darauf, dass zu Hause regelmäßig deutsch gesprochen wird. Vor allem auch wegen ihrer gemeinsamen Tochter Tippi, die zweisprachig aufwachsen soll. Aber das Wort »Schirmmütze« war offenbar bisher nicht vorgekommen.
    »Auf dem Weiß der Schirmmütze muss bei dem Original eine Delle zu sehen sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man das wieder vollständig restauriert hat.«
    |17| »Schirm-mutze?«, flüsterte Zoe etwas flüssiger, aber noch leiser, weil die Museumsaufsicht den Raum betrat. Die Frau sah immer wieder kurz zu den beiden hinüber, während sie betont beiläufig an den Bildern vorüberschlenderte, ohne diese eines Blickes zu würdigen.
    »Aber du wirst mir das schon erklären, Darling.« Dabei hatte sich Zoe noch einmal die Sonnenbrille im Haar zurechtgerückt.
     
    Amrum kommt Harry beklemmend vertraut vor, als die Fähre auf den Hafen von Wittdün zusteuert: der breite, im Sonnenlicht strahlende Strand, der rot-weiße Leuchtturm, der aus den Dünen herausguckt und den Harry in gar nicht so guter Erinnerung hat, und der hässliche Hotelkasten mit der Aluminiumfassade aus den Spätsechzigern, der unpassenderweise »Zur Alten Post« heißt. Trotzdem wirkt jetzt in den fast karibischen Farben über dem Wattenmeer alles ganz anders als damals in den stürmischen Tagen und Nächten, als das Licht jede Stunde wechselte.
    »Es ist ja wie zu Hause an der Chesapeake Bay«, sagt Zoe.
    »Im Augenblick vielleicht. Aber wart mal ab.«
    Am liebsten würde Harry seine Spur von damals gleich heute wiederaufnehmen. Aber Zoe besteht darauf, zuerst das Hotel in Norddorf zu beziehen.
    »Heute Abend gibt es erst mal Austern und Nordsee-Crabs. Und morgen sehen wir dann vielleicht mal nach deinem Bild. Okay?«
    Während die »Uthlande« mit einem metallenen Poltern |18| an der Mole in Wittdün anlegt, drängen die Passagiere in dem schmalen Gang mit den Gepäckfächern dem Ausgang zu. Dem kleinen Dicken ist beim Hantieren mit seinem etwas überdimensionierten quietschegrünen Rollkoffer sein langer
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