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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt
Autoren: dtv
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appetitlich aussehenden Herd jugoslawischer Bauart kochte Ingo ein sensationelles Cassoulet. Harry besorgte einen dazu passenden schweren südfranzösischen Syrah und war außerdem für das Dessert zuständig. Er verstand sich auf wunderbar leichte Schoko-Soufflés. Damit hatte Harry manche ihrer weiblichen Gäste, die es eigentlich auf den rotblond gefärbten Gitarristen abgesehen hatten, zur Übernachtung in seinem Zimmer ohne Michelblick überreden können.
    Der Mietvertrag lief auf den Namen eines der vielen Bekannten von Ingo, den Harry nie zu Gesicht bekommen hatte. Wenn sie Geld brauchten, vermieteten sie das dritte Zimmer zum Hinterhofan Typen aus der Provinz, die auf Montage in Hamburg waren, kurzfristig eine Bleibe benötigten und ohnehin jeden Abend auf dem Kiez unterwegs waren. Im Augenblick war Harry bei Ingo beziehungsweise dessen Bekanntem zwei Mieten im Rückstand. Aber wenn er die beglichen hatte, sollte auch die Sache mit dem braunen Opel kein Problem mehr sein.
     
    Harry sah aus dem Fenster des Bauwagens immer wieder nach draußen. Seit er hier saß, war kein einziges Auto vorbeigefahren. Der Himmel war mittlerweile sternenklar. Durch das kleine Fenster fiel das Mondlicht ins Innere des Wagens. Fast zwanghaft blätterte er immer wieder die Zeitung durch. Es waren nur die äußeren Seiten des ersten Teils. In dem fahlen Licht war alles erstaunlich gut zu lesen.
    Dabei war irgendwann passiert, was Harry unbedingt |40| vermeiden wollte. Er war eingenickt. Im frühen Morgengrauen, als der Himmel Richtung Seebüll rötlich zu schimmern begann, schreckte er hoch. Ein quälend langsam lauter werdendes Motorengeräusch hatte ihn geweckt. Nach einigen Minuten fuhr ein Traktor mit einem Gülletank am Fenster des Bauwagens vorbei. Erleichtert döste Harry noch einmal weg.

3
    Am Fenster des Fährschiffes zogen Möwen kreischend vorüber. Sie waren kaum zu sehen in dem Regen, den der Wind gegen die dicken abgerundeten Scheiben drückte. Der Horizont bewegte sich auf und ab. Die Nordsee erschien tiefdunkelgrau. Die Wellen bildeten Schaumkronen, die von Windböen immer wieder zerstäubt wurden. Das Schiff rollte und stampfte beachtlich, sodass die Passagiere, sobald sie ihre Sitzplätze verließen, unwillkürlich ins Torkeln gerieten und wie besoffen fast in die Sitzgruppen hineinliefen.
    Die Fenstertische mit den eingebauten Bänken waren alle besetzt, wenn auch meist nur von einzelnen Personen. Aber mit seiner Neckermann-Tüte wollte sich Harry nirgendwo dazusetzen. Nach einer Urlaubskonversation war ihm jetzt nicht zumute. So saß er an einem der freien Tische in der Mitte des Passagierdecks, neben sich, immer im Blick, die Tüte mit den ›Feriengästen‹ und den drei ›ungemalten‹ Aquarellen.
    |41| Ein Kellner mit einer blonden Dauerwelle hatte den Nebentisch gerade mit lappigen Matjesbrötchen versorgt. Harry wählte das »Kleine Friesenfrühstück«. Der Unterschied bestand darin, dass er sich die Matjesbrötchen selbst schmieren musste. Sein Appetit hielt sich in Grenzen. Der Fisch war grau und von weicher Konsistenz. Er schmeckte gar nicht mal übertrieben fischig, eher nach nichts. Wahrscheinlich würde er weniger schwer im Magen liegen als das gestrige Husumer Schaschlik. Auch der plörrige Kaffee aus einem Becher mit den Abbildungen verschiedener Seemannsknoten war sicher magenfreundlich.
    Das quengelnde Kleinkind, das eben noch den fleckigen Teppichboden durchrobbt hatte, war halb in die Hydrokultur gekippt und selig eingeschlafen. Harry war völlig übernächtigt und trotzdem hellwach. Seine Augen brannten. Ab und zu wurde ihm schwindelig, und er hatte das Bedürfnis, sich die Zähne zu putzen, nach dem »Kleinen Friesenfrühstück« noch mehr als vorher.
    Aus Angst, der Polizei ins Netz zu gehen, hatte er sich heute Morgen im Bauwagen entschlossen, dem Festland den Rücken zu kehren und über die Nordsee zu fliehen. Er war im Morgengrauen regelrecht berauscht von dieser Idee gewesen. Statt auf schnellstem Weg nach Hamburg zu kommen, wo vermutlich eher nach dem Täter gefahndet wurde als in Nordfriesland, wollte er eine Weile auf einer der Inseln untertauchen, um dann später über Hamburg möglichst schnell nach New York zu kommen. Er hatte an Föhr gedacht und es als zu nahe liegend verworfen. Auf der kleinen |42| Hallig Hooge wiederum wäre er als Tourist um diese Jahreszeit zu sehr aufgefallen. Und auf Sylt hatte er zuletzt schlechte Erfahrungen gemacht. Er war sich auch nicht ganz sicher,
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