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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition)
Autoren: Stephan Thome
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zweiten Muffin auf den Teller legt, bemerkt er, wie schnell er den ersten verschlungen hat. Dass er seit Monaten von Sandwichs und dem billigsten Gericht in der Mensa lebt, behält er für sich. Das wenige, das zu erzählen er Gelegenheit bekommt, betrifft seine Familie und findet Marshas emphatische Zustimmung: Eltern, die jeden Sonntag in die Kirche gehen, und eine jüngere Schwester, die bald heiraten wird. Schade, dass du nicht dabei sein kannst, stand in Ruths letztem Brief, den er immer noch nicht beantwortet hat. Es ist eine verstörende Vorstellung: die kleine dumme Ruth vor dem Traualtar. Irgendwann reißt das Knarren im Obergeschoss nicht mehr ab, und Marsha schließt seufzend die Augen.
    »Wenn man so lange verheiratet ist wie wir, wird man nicht nur füreinander durchsichtig. Die Wände werden es auch. Ich fürchte, Hartmut, Sie müssen bald nach oben.«
    »Okay.«
    »Wenn er an seinen philosophischen Texten arbeitet, höre ich stundenlang keinen Mucks. Dann sitzt er da.« Schräg zeigt ihr Arm nach oben, auf einen Punkt seitlich des Hauseingangs. »Soll ich ehrlich sein? Ich wünschte, das wäre häufiger der Fall. Früher saß er immer da, Abend für Abend.«
    »Ja. Und jetzt?«
    »Das wird er Ihnen gleich selbst sagen.« Als sie die Augen wieder öffnet, wirkt ihr Blick müde. »Hartmut, darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«
    »Ja. Natürlich.«
    »Sie sind ein junger Mann und nur für Ihr eigenes Tun verantwortlich. Trotzdem, nehmen Sie es mir bitte nicht übel. Was hat Ihr Vater im Krieg gemacht? Wissen Sie das?« Ihre Stimme wird leise und gibt Hartmut das Gefühl, sie frage nicht aus eigenem Interesse. Hurwitz kommt gelegentlich im Seminar auf den Zweiten Weltkrieg zu sprechen, auf dieselbe abrupte Weise, auf die er das Thema kurz darauf wieder fallenlässt, aber er hat ihn nie nach seinem Vater gefragt.
    »Er war nicht im Krieg. Als einziges Kind und Halbwaise wurde er ...« Was ›unabkömmlich gestellt‹ auf Englisch heißt, weiß er nicht und behilft sich anders. »Nicht einberufen. Er musste sich um die Landwirtschaft kümmern. Um seine Mutter.«
    »Das ist gut, ich meine ... Sie wissen schon.«
    Im Gespräch entsteht eine Pause. Marsha hält ihre Teetasse in beiden Händen und betrachtet den aufsteigenden Dampf. Im Nebenzimmer knistert und knackt ein Kaminfeuer. Deutlich wie lange nicht mehr steht ihm die Arnauer Küche vor Augen, ein niedriger Raum, an dessen Wänden keine Fotos hängen, nur ein Abreißkalender mit der täglichen Bibellese. Der Geruch von Ruß und Essen. Seine Großmutter sitzt den ganzenTag vor dem Fenster, blickt nach draußen und öffnet den Mund nur, um ihr Missfallen zu bekunden. Zahnlos seit zwanzig Jahren, seit sie ihr Gebiss in die Jauchegrube geworfen hat, weil es kniff. Die Unabkömmlichkeit seines Vaters mag auch damit zu tun gehabt haben, dass er als Modellschlosser in einem Betrieb arbeitete, der damals wichtige Rüstungsgüter produzierte. Oder Teile dafür. Spielt keine Rolle, denkt Hartmut. Tausende Kilometer von zu Hause entfernt sitzt er in einem warmen Esszimmer, spürt ungewohnten Alkohol auf den Wangen und hat später am Abend, was man hier ein Date nennt. Den ganzen Tag war er nervös und ist es jetzt nicht mehr. Wollte Hurwitz ihn als Doktoranden ablehnen, würde er ihn nicht erst von seiner Frau bewirten lassen. Was auch immer sein Professor von ihm will, das ist die Hauptsache: Er wird in Amerika bleiben, hart arbeiten und irgendwann Freunde finden, wird sein Englisch verbessern und allmählich einer von denen werden, die er mittags in der Mensa beobachtet. Einer von denen und trotzdem er selbst. Das ist das Ziel. Dafür ist er hergekommen.
    Marsha stellt ihre Teetasse ab und räuspert sich. »Sie wissen wahrscheinlich gar nicht, warum er sie eingeladen hat. Richtig?«
    »Nicht genau, nein.«
    »Hurwitz wird Sie um Hilfe bitten bei einem Projekt, das er sich in den Kopf gesetzt hat. Er kann ja kein Deutsch. Aber bevor er das tut, bitte ich Sie ebenfalls um etwas: Sagen Sie nicht sofort zu. Bitten Sie sich Bedenkzeit aus. Hurwitz ist ...« Ihre Augen irren durch den Raum, als hätte sie das richtige Wort eben noch gesehen. » Intense . Um nicht zu sagen besessen, was er auch manchmal ist.«
    »Was für ein Projekt?«
    »Entscheiden Sie nicht sofort, Hartmut, er wird das akzeptieren. Schließlich sind Sie hier, um Philosophie zu studieren, richtig?« Sie macht eine Bewegung mit der Hand, als wollte sie ihm über die Wange streichen und
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