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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition)
Autoren: Stephan Thome
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dem Bett, überall liegen Sachen herum, Bücher, Zeitschriften und stapelweise Schallplatten. »Lass mich raten. Bei dir ist es ordentlicher?«
    »Ich hab weniger Sachen.« Vorsichtig, damit keine Tropfen auf die vielen Papiere fallen, zieht er seinen Parka aus und legt ihn aufs obere Bett.
    »Weißt du, was mir aufgefallen ist? Wenn du ein Sandwich auspackst, faltest du hinterher das Papier zusammen.« In Erwartung seines Protestes streckt sie ihm den Zeigefinger entgegen. »Doch. Ich hab mir aber schon gedacht, dass du es nicht bewusst tust. Es ist deine zweite Natur.«
    »Wann ist dir das aufgefallen?«
    »Bei jeder Mahlzeit. Kante auf Kante, immer drei Mal.« Lächelnd sieht sie ihn an, und er braucht einen Moment, um zu realisieren, dass er sich nicht verspottet fühlt. Ihre hellbraunen Haare werden von Spangen zurückgehalten, das Gesicht wirkt offen und ein wenig verträumt. Im Seminar sitzt sie im Schneidersitz auf ihrem Stuhl, hat den Rücken durchgedrückt und die Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Starr vor Aufmerksamkeit. So saß sie eines Morgens neben ihm im Wahlpflichtkurs zur amerikanischen Verfassung. Sie musste sich verspätet haben, jedenfalls hat er sie erst bemerkt, als der zu patriotischen Floskeln neigende Dozent Amerika das Mutterland der Demokratie nannte und rechts von ihm jemand ein ploppendes Geräusch mit den Lippen machte und sagte, you wish, Nixon.
    »Doch kein Kino?«, fragt er.
    »Ich hab mir überlegt, dass es zu kalt ist. Außerdem bin ich schon ein bisschen tipsy.« Sie wendet sich zum Schreibtisch und hantiert mit der Weinflasche und einem zweiten Glas. Ihre weite, aus verschiedenen Stoffstücken zusammengenähte Hose lässt die Form eines schmalen Hinterns erahnen. »Was hat dich aufgehalten? Sind Hurwitz noch fünfhundert Bücher eingefallen, die du bis zum Sommer lesen musst?«
    »Ich soll ihm helfen, den Tod seines Bruders zu recherchieren.«
    »Oh.« Sie hält in der Bewegung inne, mit der sie ihm das Glas reichen wollte, ihre grau-blauen Augen direkt auf seine gerichtet. »Erzähl, wie ist er gestorben?«
    »Im Krieg. Ich soll mit niemandem darüber reden.«
    »Erzähl!«
    Um den Blickkontakt zu verlängern, zögert er. Nimmt zuerst das Glas und trinkt einen Schluck. Der Wein schmeckt nicht, tut aber gut. Sandrines blasse Sommersprossen werden nur sichtbar, wenn Licht auf die Haut fällt.
    »Das ist ein Befehl«, sagt sie.
    Beim Reden wird ihm so warm, dass er Pullover und Hemd auszieht und Sandrine schließlich im T-Shirt gegenübersitzt. Die meisten Wörter hat er vor einer Stunde von Hurwitz gelernt und benutzt sie zum ersten Mal. Es fühlt sich merkwürdig an, von Deutschland wie von einer unbekannten Hölle zu sprechen, aber tatsächlich hat er vor heute Abend noch nie von diesem Landstrich in der Nordeifel gehört, wo im Winter 1944/45 zerfetzte Leichen in den Bäumen hingen. Sandrine hört zu in ihrer Yogi-Haltung, mit geradem Rücken und so reglos, als wäre sie in Meditation versunken. Draußen auf der Fensterbank wächst eine weiße Düne, die sie langsam von der Außenwelt abschneidet.
    »Einmal in der Woche soll ich bei ihm vorbeikommen.« Nach einem halben Glas spürt er wieder Hitze auf den Wangen. »Es gibt ein ganzes Zimmer voller Material, aber natürlich liest er nur Englisch.«
    »Ist es ein altes Haus?«
    »Ja. Seine Frau hat mich vor seiner Besessenheit gewarnt. Früher im College war er ein berühmter Footballspieler. Hieran der U of M. Wenn er in Fahrt kommt, ist er nicht zu halten. Er hat darüber gesprochen, als wäre alles gestern passiert.«
    »Wie hieß der Bruder?«
    »Joey. Jedenfalls hat Hurwitz ihn so genannt.«
    Das obere Stockwerk in Hurwitz’ Haus besteht aus zwei niedrigen Zimmern, deren größeres als Arbeitsraum dient. Das andere zeigt zum Garten und beherbergt die Materialsammlung; noch ungesichtet und nur provisorisch geordnet auf langen Regalböden. Memoiren, Briefe, historische Studien. Zwei alte Landkarten hängen an den ansonsten kahlen Wänden, auf der größeren zeigen Pfeile die Truppenbewegungen an. Hurwitz nannte den Raum seine Zelle und diese Schlacht den größten Fehler des Zweiten Weltkriegs. Ein Feldzug im schlimmsten Winter seit fünfzig Jahren, ohne entsprechende Ausrüstung! Ein völlig überflüssiges Gemetzel. Je länger er sprach, desto größer wurde seine Empörung, erst beim Abschied vor der Haustür fand er zurück zu seinem distanzierten Selbst. Ein wenig müde, mit immer noch unruhigen Augen. Für seinen
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