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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition)
Autoren: Stephan Thome
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Händedruck ist er unter Studenten gefürchtet; vorsichtshalber spannte Hartmut den Oberkörper an, bevor er einschlug. Marsha sah er nicht mehr.
    »Ich konnte ihn nicht unterbrechen«, sagt er. »Ihm sagen, dass ich noch eine andere Verabredung habe.«
    Sandrine winkt ab und schenkt Wein nach. Als er sich umschaut, kommt ihm das Zimmer nicht mehr chaotisch vor, sondern wohnlich auf ähnliche Weise wie Sandrine herzlich ist, ohne offensichtliches Bemühen. Sie sitzen auf einem Lager aus Kissen und so nah beieinander, dass seine ausgestreckten Beine ihre Knie berühren. Einmal steht sie auf, macht sich am Plattenspieler zu schaffen und setzt sich genauso dicht zu ihm wie zuvor. Hält ihm das bunte Cover der Platte entgegen.
    »Mein Vater schickt mir so was. Magst du europäischen Jazz?«
    »Keine Ahnung.«
    »Was ist das für eine Antwort?«
    »Ich müsste es erst hören.«
    »Tust du gerade.« Sie schaut ihn an, und er spürt die Stelle an seiner Wade, die ihr Knie berührt. »Mein Vater versorgt mich regelmäßig mit Büchern und Platten, damit ich ihm verzeihe, dass er meine Mutter betrügt. Eigentlich müsste ich ihm alles zurückschicken, aber er ist ein gewiefter Hund. Er weiß genau, was ich mag. Also bin ich seine Komplizin.« Sie legt sich das leere Cover auf den Kopf, wo es ein paar Sekunden in der Balance bleibt. Dann rutscht es über ihren Rücken zu Boden. »Das ist meine Familie: ein Casanova, der aussieht wie Fernandel, und eine gebildete kluge Frau, die zu allem, was sie im Lauf des Tages schluckt, Aspirin sagt. Und ich. Von deiner Familie erzählst du nie.«
    »Warum trennen sie sich nicht?«
    »Feigheit. Komplizierte Vermögensverhältnisse. Tradition. Sie haben geheiratet, weil meine Mutter schwanger war, und an manchen Tagen bringe ich es fertig, mich deswegen schuldig zu fühlen. Komisch, oder? Wir sind alle sehr bourgeois.« Mit einem Schulterzucken greift sie nach seiner Hand.
    Einen Moment lang fühlt er sich überrumpelt und weiß nicht, wie er reagieren soll. Dann reden sie einfach weiter. Im Hintergrund spielt eine Trompete, wie er sie noch nie gehört hat: unruhig, flatterhaft, ein Haken schlagendes Tier. Er selbst wird immer ruhiger. Spürt Sandrines Fingerspitzen über seinen Handteller fahren und hört zu, wie sie von einer geplanten Reise erzählt. »The Great River Road«, sagt sie, als wäre es eine Zauberformel. Der Verlauf scheint auf seinen Unterarm geschrieben zu sein, jedenfalls tippt sie auf eine Reihe von Punkten und flüstert unbekannte Namen dazu. Hartmut denkt an die Mark-Twain-Geschichten von früher, an seine Phantasien von Schaufelraddampfern und selbst gebauten Flößen. Dunst über dem weiten Wasser, einen Grashalm im Mund. Kann man sich nach einem Ort sehnen, an dem man nie gewesen ist? In Sandrines Erzählung kann man ihn sogar erreichen. Man muss nur dem Fluss folgen, der draußen durch den verschneiten Campus fließt. Immer weiter, bis tief in den Süden.
    »Du hast eine Gänsehaut«, sagt sie. »Bin ich das?«
    »Wie willst du fahren? Mit dem Zug?«
    »Ich kauf mir ein Auto.«
    Inzwischen liegt er auf dem Rücken. Sandrine lässt seine Hand los, dreht die Platte um und stellt die leeren Gläser auf den Schreibtisch, bevor sie sich zu ihm legt. Wie selbstverständlich nimmt sie ihre Brille ab, bettet den Kopf auf seinen Oberarm und sagt: »Einen offenen Thunderbird. Mr. Casanova bezahlt.«
    »Du hast schon alles geplant.«
    »Fast alles.« Sie streckt den Hals und küsst ihn sanft auf die Wange. Die Berührung erinnert ihn an die Schneeflocken vor den Fenstern der Wilson Library. »Der Beifahrersitz ist noch frei.«
    Langsam dreht er ihr das Gesicht zu. Normalerweise geschehen Dinge nicht auf diese Weise, und trotzdem ist er nicht überrascht. Den gesamten Sommer und den Herbst hindurch hat er mit der Erwartung gelebt. Seit er in New York gelandet und zwei Tage lang durch die Stadt gelaufen ist. Müde und durstig, unaufhörlich staunend. Seitdem weiß er von der Unumkehrbarkeit seines Weges.
    »Heute Nachmittag hatte ich so ein Gefühl«, sagt er, »in der Bibliothek. Als es auf einmal begonnen hat zu schneien.«
    »Was für ein Gefühl?«
    »Weiß nicht. Ein gutes.« Obwohl er sich schämt für seinen Maulwurfsblick, wehrt er sich nicht, als Sandrine ihm die Brille abnimmt. Ihr Gesicht verschwimmt, eine Hand legt sich auf seine Wange.
    »War es bisher nicht gut?«
    Er kann ihren Atem riechen, den Wein und die Wärme.
    »Das erzähle ich dir ein andermal.«
    »Es
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