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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman
Autoren: Ned Beauman
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Ruhm, sondern an einem viel gewöhnlicheren Rauschmittel. »Ich muss sowieso mit Pocks Mann reden«, fügte Frink hinzu, während er sich bückte, um ein Springseil wegzuräumen. Seine Stirn, die Augenlider und die Nasenspitze waren immer sehr rosig, als sei er irgendwann einmal auf einem Herd eingeschlafen.
    »Wieso?«
    »Er könnte versuchen, dich sperren zu lassen.«
    »Ich werde nicht gesperrt.«
    »Nein, nicht dieses Mal und auch nicht nächstes Mal, aber das übernächste Mal könnte es passieren.«
    »Mach’s gut.«
    »Mach die Flasche nicht so schnell leer.«
    Frink ging hinaus. Seth saugte an der Ginflasche, dann hustete er und schloss die Augen.
    Sechzehn Jahre alt, sieben Profikämpfe (keine Niederlage), neun Zehen, einen Meter fünfzig groß. Das waren die Zahlen, die Seth »Sinner« Roach ausmachten, alle ziemlich niedrig, aber was machte das schon? Heute – am 18.   August 1934 – war er bereits der beste neue Boxer in London. Für seine Gegner war ein Kampf gegen Sinner wie ein Verhör: jeder Schlag eine Frage, die sie unmöglich beantworten konnten, eine Anschuldigung, die sie unmöglich zurückweisen konnten.
    Die Herkunft seines Spitznamens war wie die des Sessels geheimnisvoll. »Die Juden kennen keine Sünder, Seth«, pflegte Rabbi Brasch zu sagen, »bei uns gibt es nur Idioten.« Wenn Sinner nüchtern war, war sein Gesichtsausdruck von einer so unverrückbaren Intensität, dass er, wenn man ihn zu lange betrachtete (was viele Leute taten, weil sie zu verstehen versuchten, wie ein so verkümmertes, ungehobeltes Äußeres so schön sein konnte), nicht mehr intensiv, sondern im Gegenteil leer und träge schien, ganz so, als wiederhole man ein barsches Wort so oft, dass es seine Bedeutung verliert. Diese Eigenschaft der Unveränderlichkeit schien die Möglichkeit der Sünde völlig auszuschließen. Und trotzdem nannten ihn alle Sinner. Er hatte öliges schwarzes Haar, dünne Augenbrauen, lange Wimpern, kleine Brustwarzen, leicht abstehende Ohren und gegen jede Wahrscheinlichkeit immer noch alle Zähne im Mund.
    Leise wurde an die Tür geklopft. »Verpiss dich«, sagte Sinner. Aber die Tür öffnete sich und in die Garderobe trat ein großer blonder Mann, der mit einem schwarzen Mantel bekleidet war. »Mr.   Roach«, sagte er und streckte die Hand aus. Er trug kalbslederne Handschuhe mit Perlenknöpfen und hatte einen sauber getrimmten Schnurrbart, der das fliehende Kinn aber nicht aufwiegen konnte. Er hielt sich, als glaube er, jeden Moment einem herangaloppierenden Pferd ausweichen zu müssen.
    »Mein Name ist Philip Erskine«, sagte er.
    »Ich bin entzückt«, antwortete Sinner, ohne sich zu bewegen.
    »Ich habe Ihre Vorstellung heute Abend sehr genossen.«
    »Krieg ich jetzt Blumen?«
    »Ich bedaure, dass ich auf diese Weise hier eindringe, Mr.   Roach, aber ich wusste keinen anderen Weg, um mit Ihnen zu sprechen.« Während Sinners Ostlondoner Dialekt einen Hauch des Jiddischen seiner Eltern aufwies, war Erskines Aussprache die vornehmste, die Sinner je gehört hatte, mit Ausnahme des Managers von Danny Gaster – angeblich ein enterbter Aristokrat – und den Sprechern im Radio. Als er erkannte, dass er keinen Handschlag zur Begrüßung bekommen würde, zog Erskine seine Hand auf eine Art zurück, die den Eindruck erwecken sollte, er habe ohnehin keinen erwartet. »Ich würde Ihnen gern ein Angebot machen.«
    »Hast du ’ne hübsche Schwester, die ich kennenlernen soll?«
    »Nun, eigentlich –«
    »Ach, nein, ich hätt’s wissen müssen. Ich sitze einem harten Gangster gegenüber. Du willst, dass ich einen Kampf absichtlich verliere.«
    »Nein, es ist –«
    »Ich hab’s«, sagte Sinner und trank einen Schluck Gin. »Du willst im Schwergewicht antreten, und ich soll dir einen guten Trainer besorgen.«
    »Tatsächlich weiß ich nichts über das Boxen, Mr.   Roach. Ich bin Wissenschaftler.«
    »Faszinierend.«
    »Darf ich mich erklären?« Der Junge antwortete nicht gleich, also fuhr Erskine fort. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, mich anzuhören. Ich werde es ganz kurz machen. In den letzten vier Jahren habe ich mich der Erforschung von Insekten gewidmet. Es gibt nur sehr wenig, was ich nicht über Käfer weiß. Doch nun habe ich genug von Käfern. Ich möchte Menschen studieren. Und Sie sind das menschliche Wesen, das ich am liebsten untersuchen möchte, seit ich das erste Mal von Ihrer sehr ungewöhnlichen Physiologie gehört habe.«
    »Du meinst, dass ich ’n Kurzer
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