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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman
Autoren: Ned Beauman
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wenn sich Narbengewebe bildete, zog es die Lippe nach oben und verzerrte den Mund, der dann ständig offen stand. Er machte auch andere Sachen, ohne die Klinge. Einmal hatte Bryan Harding versucht, Kölmel den vollen Preis für seine Fish and Chips abzuknöpfen, also griff Kölmel sich Hardings Katze und warf sie in die Friteuse.
    »Ist das dein Junge?«, hatte Kölmel an jenem Abend im Februar gefragt.
    »Hier«, hatte Sinners Vater gesagt und Kölmel fünf Shilling gegeben, ohne ihm in die Augen zu sehen.
    »Wie heißt du, Sohn?«, hatte Kölmel dann Sinner gefragt, der verschimmelte Rüben aussortierte. Sie waren von Abfalljägern umgeben: Erst kamen die sehr Armen, die sehr Geizigen und die sehr Alten, die bis zum Ende des Tages warteten, um schwer verkäufliche Ware zum niedrigsten Preis zu bekommen, dann die Obdachlosen, die Krüppel und die Verrückten, die zwischen dem Abfall hin und her huschten, um auf dem Boden nach zerdrücktem Obst und Gemüse zu suchen, nach Pappe für eine Bettstatt und nach Teilen von zerbrochenen Holzkisten, mit denen man ein Feuer machen konnte. In Sinners Augen war ein Markt wie dieser nichts als ein endloser Kampf gegen den Verfall, ein bloßes Wartezimmer für die riesige Müllhalde an der Back Church Lane: Stell dich lange genug in den starken Wind der Fäulnis, und er beginnt bald damit, Jahre von deinem eigenen Leben abzutragen, sodass du am Ende selbst verfault riechst; besser war es, in einer Drogerie oder in einem Süßwarenladen zu arbeiten, wo die glänzenden Kügelchen in den Glasgefäßen neunhundert Jahre alt sein konnten, ohne dass es irgendjemanden interessierte. Gleichzeitig war der Markt am frühen Morgen von einer großen Schönheit, die Sinner jedoch selten zu sehen bekam: Alles strahlte vor Frische, nur wenige Menschen waren da, es war wie der Beginn der Schöpfung. Nur dass Gott sich bei der Schöpfung bestimmt keine Kreatur wie Albert Minyo hatte vorstellen können, der dreißig Jahre lang acht Stunden am Tag immer nur dasselbe schrie: »Zervelatwurst! Zervelatwurst! Zervelatwurst! Zervelatwurst! Zervelatwurst! Zervelatwurst! Zervelatwurst! Zervelatwurst! Zervelatwurst! Zervelatwurst! Zervelatwurst!«
    »Ich heiße Seth«, hatte Sinner geantwortet.
    »Und hast du auch Geschwister?«
    »Meine kleine Schwester heißt Anna.«
    »Ich würde sie gern kennenlernen. Also, wir sehen uns, Seth. Herzlichen Dank, Mr.   Roach«, hatte Kölmel gesagt und Sinners Vater auf die Schulter geklopft.
    Nachdem Kölmel fort war, entnahm Sinner dem Gesichtsausdruck seines Vaters, dass es besser sei, nicht zu fragen, wer der Mann war oder wofür er das Geld nahm; aber ein paar Wochen später, als Alfeo an einem Sonntag mit Pflastern auf beiden Wangen auftauchte, war Sinner sich fast sicher, dass es etwas mit Kölmel zu tun hatte. (Sinner wusste nicht, dass man Kölmel bloß zu fragen brauchte, um seine Absichten zu erfahren, die er fröhlich kundtat: Das Geld würde dabei helfen, dreckige Neueinwanderer davon abzuhalten, sich auf dem Markt einzunisten und den etablierten Händlern Konkurrenz zu machen.) So oder so konnte er nicht umhin, Kölmel als positive Gestalt zu betrachten, besonders da Alfeo ihm gern eine Kopfnuss gab, wenn Sinner seinen Kuchen zu nahe kam. Und er hatte auch nichts dagegen, wenn sein Vater gedemütigt wurde. Einschüchterung war eine Art Eroberung, und Sinner mochte Eroberungen.
    Mit neun Jahren arbeitete er schon für Kölmel am Hafenbecken. Ausgerüstet mit einem ausgespülten Benzinkanister und einem »Rumrohr« (ein kurzes Metallrohr, an dem ein längerer Gummischlauch befestigt war), krochen er und ein anderer Junge aus Whitechapel auf die knarrenden Holzkais, wo Fässer mit Rum oder Portwein entladen wurden. Während der andere Junge Wache schob, begann er dort mit dem Geschäft des Absaugens: Er rammte das metallische Ende des Rumrohrs unter dem Spund in das Fass, saugte an dem Gummischlauch, bis die Flüssigkeit kam, füllte den Kanister, schloss den Deckel und wartete, bis der andere Junge seinen eigenen Kanister gefüllt hatte. Dann rannten sie weg, schnappten sich auf dem Weg aus den Kisten eine Limone oder eine Banane oder sogar eine Ananas, und die Hafenarbeiter spuckten Flüche aus, wenn sie vorbeikamen. Nach ein paar Minuten verlangsamten sie ihr Tempo, liefen keuchend und kichernd durch Limehouse und bekamen für ihre Kanister von einem von Kölmels Männern ein paar Pence, wenn sie angekommen waren. Auf diese Weise probierte Sinner zum
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