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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman
Autoren: Ned Beauman
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musterte die Gesichter. Nach ein oder zwei Minuten entdeckte er einen hübschen Jungen von neunzehn oder zwanzig mit einer auf irgendwie französische Art gebogenen Nase, der mit den Daumen in den Taschen dastand und verloren aussah. Sinner drängte sich durch die Menge. Er legte dem Jungen eine Hand auf den Arm, beugte sich an sein Ohr, um trotz der Musik gehört zu werden, und streifte dabei mit der anderen Hand leicht den Schritt des Jungen. »Wartest du auf jemand Bestimmten?«
    »Nein.«
    »Dann komm.« Sinner zog ihn in Richtung Tür.
    »Wer bist du?«
    »Ist doch egal.«
    »Wohin gehen wir?«
    »Hotel de Paris in der Villiers Street. Ich zahle. Sie kennen mich. Warst du schon mal da?«
    »Nein, eigentlich … Ich meine …«
    Sinner hatte nie irgendwelche Schwierigkeiten. In einem Club wie diesem beteiligten sich für gewöhnlich selbst die Jungs, die so schön waren wie Sinner, am Flirten und am Geplauder. Deshalb ging man ja ins Caravan, anstatt sich im Piccadilly News Theatre im Dunkeln auf die Jagd zu machen. Sinner jedoch brauchte sich damit nicht aufzuhalten – die Art und Weise, wie er einen ansah und ansprach, hatte etwas. Zumindest hatte sie beim ersten Mal etwas – kaum jemand ging ein zweites Mal mit ihm. Nicht nur, weil Sinner selbst das Interesse verlor, sondern auch wegen der Prellungen und der Erschütterung, besonders wenn man wie dieser französische Junge das Pech hatte, Sinner an einem Abend zu treffen, an dem der halbe Kampf noch in ihm eingesperrt war. Aber selbst wenn man gewarnt worden war, ließ man Sinner nicht abblitzen. Das Beste war, auf dem Weg noch eine Flasche Gin zu besorgen, denn dann gab es eine gewisse Chance, dass er nach einem letzten monochromen Orgasmus bei Tagesanbruch umkippte.
    Sie waren an der Tür und wollten gerade die Stufen zur Straße hinaufsteigen, als ein Mann im schwarzen Mantel herunterkam. Sinner blickte auf. Es war Philip Erskine. Sinner blieb stehen.
    »Was zum Teufel willst du denn hier?«, sagte er.
    Erskine erbleichte und begann zu stottern.
    »Du bist mir gefolgt«, sagte Sinner.
    »Was?«, sagte Erskine.
    »Du bist mir hierher gefolgt. Wahrscheinlich willst du mich entführen. Du schnöselige Drecksau!«
    Erskine schluckte. »Das stimmt. Ich bin Ihnen hierher gefolgt. Es tut mir leid.«
    Sinner war klar, dass Will Reynolds es nicht gutheißen würde, wenn Sinner einen Kerl auf seinen Stufen zusammenschlug, deshalb gab er Erskine nur eine kräftige Schelle mit dem Handrücken. Erskine stieß einen Schrei aus, drehte sich um, hastete die Stufen hinauf und rannte über die Endell Street davon.

DRITTES KAPITEL
    Erskine war wieder in der Schule. In dem Traum erwachte er eines Morgens im Schlafsaal, schlug die Laken zurück, blickte auf seinen Körper und stellte voller Schrecken fest, dass er während der Nacht von einem Insekt in einen Menschen verwandelt worden war.
    Als er ein zweites Mal erwachte, war er verschwitzt und hatte einen pappigen Mund und eine Erektion. Er hatte nur ein zehnminütiges Nachmittagsschläfchen machen wollen, aber es war bereits drei Uhr. Er befand sich in einem kleinen, heißen Zimmer im United Universities Club in der Suffolk Street, wo er immer wohnte, wenn er in London war, und lag auf einer unbequemen Matratze voller Knubbel und Knoten. Der Club war altmodisch, angefüllt mit unerträglich munteren Cambridge-Absolventen und so staubig, dass er unentwegt niesen musste. Aber sein Vater hatte auf seinem Beitritt bestanden. Wenn er sich ein bisschen Mühe gab, würde der vierundzwanzigjährige Erskine bestimmt bald viele faszinierende Freunde in London finden, bei denen er zu Abend essen und übernachten konnte, wann immer er wollte; aber bislang war der UUC alles, was er hatte.
    Nachdem er sein Hemd gewechselt hatte, ging er nach unten in den L-förmigen Aufenthaltsraum. Die schweren kastanienbraunen Vorhänge waren gegen den Ansturm des Sommertags halb zugezogen, und Morton, Cripling und Nash saßen da und gackerten über etwas. Er setzte sich neben sie in einen Sessel und versuchte herauszufinden, was so witzig war. Niemand begrüßte ihn, und deshalb tat er so, als würde er die Times lesen. Am nächsten Tag sollte es in Deutschland eine aufregende Volksabstimmung geben, um Hitlers Nachfolge im Amt des Reichspräsidenten zu bestätigen.
    »Ich glaube ja, dass Nash nichts gegen einen gelegentlichen ›Nachtausflug zu anderen Ufern‹ hat; stimmt’s, Nash?«, sagte Morton. »Er hat so was ›Unkonventionelles‹.«
    Nash
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