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Fleckenteufel (German Edition)

Fleckenteufel (German Edition)

Titel: Fleckenteufel (German Edition)
Autoren: Heinz Strunk
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Saugetücher, denke ich, ein viel besseres Wort als Haushaltstücher. Ich schaue aus dem Fenster. Ostseeblick. Vom Meer grollender Donner, der sich bricht, das Echo mischt jeden Schlag in den nächsten.
    Ich bin müde und fröstelig. Es gibt keinen Anspruch auf Glück, und mir kommt es so vor, als würde das Leben einfach so vorübergehen, ohne dass noch etwas Entscheidendes passiert. Ich denke wieder an die Bundesjugendspiele. Siebzig Meter, siebzig Meter, kein Mensch erinnert sich mehr an meinen Meisterwurf, und spätestens zehn Jahre nach meinem Tod wird sich auch an mich niemand mehr erinnern. An gar nichts. Thorsten Bruhn? Nie gehört, nichts wird bleiben, kein Fussel, kein Fitzelchen, ich werde vergessen werden, getilgt, ausgelöscht, wie Onkel Johnny und Oma Änne.
    Ich bin wahrscheinlich der jüngste Mensch überhaupt, der sich noch an Johnny und Änne erinnert. Wenn ich tot bin, weiß man noch nicht einmal mehr, dass sie überhaupt gelebt haben. Daher ist es meine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, dafür zu sorgen, dass man ihnen ein Andenken bewahrt.
    Sie haben es verdient, weil sie mehr Gutes als Scheiße in die Welt hinausgetragen haben. Am Ende geht es ausschließlich darum: mehr Gutes als Scheiße in die Welt hinausgetragen zu haben. Insofern sind sie viel wichtiger, als es vielleicht scheint, abgesehen davon, dass sie entscheidend zu meiner glücklichen Kindheit beigetragen haben. Viele Jahre durfte ich sie an den Wochenenden und in den Ferien in ihrem Häuschen auf dem Land besuchen, mit dem Nahverkehrszug: Hittfeld, Klecken, Buchholz, Sprötze, Tostedt. Dann weiter an den Bahngleisen entlang nach Todtglüsingen, halbe Stunde Fußmarsch. Hunde, Katzen, Wälder, Bäume, Blumen, Pferde, Schweine, Teiche, Bauernhöfe, Baumhäuser, Höhlen, und vor dem Einschlafen habe ich den von ferne ratternden Zügen gelauscht. Der arme Onkel Johnny, seit drei Jahren ist er tot, und ich war noch nicht mal auf seiner Beerdigung. Oma Änne ist im Oktober gestorben, und der Scheißpastor hat bei der Trauerrede sogar ihren Nachnamen falsch ausgesprochen! Ach je. Irgendeine Geschichte müsste man sich ausdenken, die zwar nicht wahr zu sein braucht, aber trotzdem stimmt:
    Onkel Johnny war mein Großonkel. Immer wenn er uns besuchen kam, freute ich mich wie Bolle und konnte es kaum abwarten, bis er endlich mit seinem ockerfarbenen Kadett B angebraust kam. Er kurbelte die Scheibe herunter und drückte mir ein Fünfzig-Pfennig-Stück in meine schwitzenden, dünnen Händchen. «Aber nicht im Puff verjubeln», dröhnte der Koloss und lachte, dass der Kleinwagen vibrierte. Onkel Johnny war ein Schrank von einem Mann, seine Beine waren groß wie Straßenlaternen. «Die Beine sind die Visitenkarte eines Mannes», sagte er immer. Alles an Onkel Johnny war groß. Die riesigen Hände sahen aus wie Lkw-Reifen, und seine Füße hatten die Größe von Eigentumswohnungen, so kam es mir als Kind jedenfalls vor. Wenn er beim Lachen seinen Mund weit aufriss, sah man große Mengen Essensreste, die sich zwischen seinen mächtigen Hauern festgesetzt hatten. Als er bemerkte, wie ich ihn beobachtete, nahm er mich fest in den Arm und sagte augenzwinkernd: «Geh, Junge, als Mann musst du immer deine Speisekammer mit dir führen.» Das leuchtete mir ein, und auch ich versuchte, möglichst viele Reste in meinem Mund zu behalten. Onkel Johnny war von solch übermenschlicher Präsenz, dass vor ihm selbst die Tierwelt in Habtachtstellung ging. Im Spätsommer, wenn die Wespenplage begann und alle anderen Menschen wild um sich schlugen, blieb der Gigant ruhig wie ein Hinkelstein sitzen; nie hätte ein niederes Insekt es gewagt, den mächtigen Mann zu stechen. Manchmal und nur so zum Spaß schnellte seine riesige Pranke durch die Luft, und wenn er sie öffnete, befanden sich darin zerquetschte Wespen, Fliegen und Hornissen, manchmal auch ein kleiner Vogel. Ich bewunderte ihn zutiefst und hätte alles darum gegeben, so zu sein wie er.
    Onkel Johnny war Mitte sechzig, sein ganzes Leben hatte er allein wie ein Einsiedlerkrebs als Sattlermeister in seinem Hexenhäuschen auf dem Land verbracht. Doch plötzlich nahm sein Leben eine unerwartete Wendung: Seine Cousine Änne war nach dem Tode ihres Mannes das Stadtleben endgültig leid. Da Johnny und sie sich immer gut verstanden hatten, schlug Änne vor, zu ihm zu ziehen. Onkel Johnny war wie vom Schlag getroffen. Zusammenwohnen, und dann noch mit einer Frau? Doch nach ein paar Wochen fand er Gefallen an dem
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