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Flammenopfer

Flammenopfer

Titel: Flammenopfer
Autoren: Joerg Liemann
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aber hier ist es interessanter. Und billiger.«
    Sie streifte die Schuhe ab und streckte die Beine aus. » So billig ist deine Penthauswohnung bestimmt auch nicht.«
    » Reine Mietsache«, sagte Sternenberg. » Stimmt schon, mit der Renovierung im Prenzlauer Berg steigen die Preise. Am Kollwitzplatz können sich das nur noch Rechtsanwälte und Zahnärzte leisten.«
    Sie ließ den Blick schweifen. » Das erste Mal war ich mit meinem Papa hier oben. Er nahm mich auf seine Schultern und zeigte da rüber und sagte: Das da hinten ist der Westen. Sollen wir uns das angucken gehen? Da hatten sie gerade die Grenze aufgemacht. Er ist mit mir rübergegangen, in dem ganzen Gewühl. Meine Mutter war zu Hause und heulte. Sie wollte nicht, dass er mich mitnimmt. Wahrscheinlich hatte sie Angst, dass wir drüben bleiben. Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich da gesehen habe. Ich kann mich bloß an die Massen von Menschen erinnern und dass mein Papa mich durch alles durchgetragen hat. Und wieder zurück.« Sie nahm den letzten Schluck. » Heute sieht es hier so aus, als ob die meisten Häuser neu wären. Als ich klein war, war alles eine angegammelte Masse, aber ich fand’s gemütlich. Und die Häuser sind gar nicht neu heute, bloß die Dächer. Wie bei ’nem alten Gebiss: Der Zahnarzt packt dir eine Krone nach der anderen oben drauf, aber er sieht vorher nicht nach, wie gammelig es darunter ist.«
    » Die Fassaden sind aber auch ausgebessert.«
    » Angestrichen, ja. Oder ausgegipst. Die Schnörkel kleben sie wieder dran. Gut und schön. Aber die meisten Gebäude werden innen nicht verändert. Öfen raus, schicke Treppenhäuser, und der Rest rottet vor sich hin.«
    Kai Sternenberg schaute über sein Berlin und dachte über das Bild vom überkronten Gebiss nach.
    » In den Penthäusern«, fügte sie hinzu, » wohnen die, die neu hergekommen sind. So wie du. Unten sind die, die genauso morsch sind wie die Gebäude. Es ist so eine Art schöner Schein.«
    » Ich denke, die meisten der alten Mieter fliehen vor den teuren Mieten, oder sie werden rausgeekelt.«
    » Klar, das kommt vor. Aber hier oben konzentriert sich der Luxus, unten bleibt die Welt unverändert.«
    Sie schauten und schwiegen lange.
    Dann sagte er: » Von oben gesehen wird die Stadt immer schöner. Wenn man in die Stadt hineinhört, bekommt man das ganze Elend mit. Unter der Oberfläche ist kaum etwas, was so ist, wie die Menschen es sich wünschen. Sie machen sich was vor. In Wirklichkeit ist vieles kaputt. Die Politik, die Familien, die Jobs, die Gesundheit, die Lebensträume … So wie du gesagt hast: Es ist morsch. Ich wäre nur nicht auf den Gedanken gekommen, das mit einem Gebiss zu vergleichen.«
    Sie nickte.
    Kai Sternenberg sah sie an. Sie hatte sich eine Sonnenbrille mit winzigen Gläsern aufgesetzt. Er musste lachen.
    » Was ist?«
    » Sieht niedlich aus.«
    » Niedlich.«
    » Ja. Ein bisschen wie Janis Joplin.«
    » Wie wer?«
    » Janis Joplin. Sängerin aus Texas. Rock.«
    » Ach so, eine Ikone deiner Generation.«
    Sternenberg nickte und leerte sein Glas.
    Sie berührte seine Hand. » Sorry. Ich wollte nichts übers Alter sagen.«
    » Es ist eigentlich gar nicht meine Generation. Sie ist 1971 schon gestorben, da war ich gerade … na ja, in der Grundschule.«
    Von Westen her zogen Wolken auf. Sternenberg beobachtete, wie sie sich auf die Sonne zubewegten und von ihr durchstrahlt wurden. Nach einer Weile wandte er sich dem Mädchen zu. Auf ihrem Oberarm bildete sich eine Gänsehaut, obwohl es wärmer wurde.
    Sie zog die Beine an und legte die Arme um die Knie. » Ich glaube, ich bin müde. Musst du nicht auch schlafen? Bist doch vorhin erst nach Hause gekommen.«
    » Ja, und in ein paar Stunden muss ich schon wieder arbeiten.«
    » Hättest du was dagegen, wenn ich bei dir schlafe?«
    Er vermutete, dass er überrascht aussah, denn sie lachte. » Ich kann auch runtergehen, zu mir. Aber eigentlich habe ich dazu keine Lust. Wir sitzen so lange beieinander, da können wir auch beieinander liegen. Oder?«
    » Okay.« Er stand auf und merkte den Wein, den er auf nüchternen Magen getrunken hatte.
    Auch das Mädchen wirkte zerzaust und nicht besonders standfest. » Lassen wir die Gläser stehen. Ich erledige den Abwasch später.« Sie lachten.
    Sie stand vor dem Bett. Sternenberg stellte den Wecker. » Beieinander schlafen heißt nicht miteinander«, sagte er halb fragend, halb bestimmt.
    » Natürlich«, sagte sie. Sie nahm die großen Ketten ab und zog sich
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