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Flammen im Sand

Flammen im Sand

Titel: Flammen im Sand
Autoren: Gisa Pauly
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noch links.
Deswegen erschrak sie zu Tode, als sich ihr vor dem Seniorenheim jemand in den
Weg stellte und nach ihrem Fahrradlenker griff. Das Rad kippte zur Straßenmitte,
und Carlotta Capella konnte sich gerade noch mit dem linken Fuß abstützen,
sonst hätte sie sich auf dem Pflaster der Steinmannstraße wiedergefunden.
    Â»Sind Sie verrückt geworden?«, fuhr sie den alten Mann an, der vor
ihr stand und sie interessiert betrachtete. Nicht schuldbewusst, nicht
erschrocken oder ängstlich, sondern tatsächlich interessiert. Erst in diesem
Moment sah Mamma Carlotta, dass er unter seiner Winterjacke nur eine Unterhose
trug. Spindeldürre Beine ragten grotesk daraus hervor, die Füße steckten in
klobigen braun-rot karierten Pantoffeln.
    Â»Nichts verraten«, sagte er und zeigte die Steinmannstraße hinab.
»Keiner darf was wissen.«
    Nun ahnte Mamma Carlotta, was für einen Menschen sie vor sich hatte.
Dem ging es anscheinend so wie dem Bruder ihres Zahnarztes. Schon mit Ende
vierzig hatte der geistige Verfall bei ihm eingesetzt, und da er die Metzgerei
ihres Dorfes betrieb und täglich mit scharfen Messern hantierte, war er bald
aus dem Verkehr gezogen worden. Nachdem er sich dann in einem unbeobachteten
Moment zu seiner Schlachterei aufgemacht hatte, dort zu einem Hackebeil
gegriffen und alles, was sich besänftigend auf ihn zubewegte, unbedingt
verwursten wollte, hatte man ihn von da an in seinem Schlafzimmer eingesperrt.
    Â»Keiner darf was wissen«, wiederholte der alte Mann, und Mamma
Carlotta beeilte sich, ihm beizupflichten, so wie es alle bei dem Metzger in
ihrem Dorf taten, der aggressiv wurde, wenn jemand nicht seiner Meinung war.
    Zum Glück kam in diesem Moment eine Frau im weißen Kittel aus dem
Seniorenheim gelaufen. »Entschuldigung!«, rief sie schon von Weitem. »Herr
Lürsen ist uns wieder mal entwischt.«
    Schwer atmend stand sie vor Mamma Carlotta und entschuldigte sich
noch drei weitere Male. »Früher war er Lehrer«, erklärte sie. »Er will jeden
Tag in die Schule und seinen Stundenplan ändern, damit er samstags keinen Unterricht
hat.« Sie griff nach seinem Arm und führte ihn weg.
    Mitleidig sah Carlotta dem Mann hinterher, der in kleinen Schritten
neben der Altenpflegerin hertrippelte. Die redete auf ihn ein, während er
versuchte, mit ihr Schritt zu halten.
    Mamma Carlotta schwang sich wieder auf den Sattel und begann nach
Leibeskräften zu treten. Woran ein Mensch wohl merkte, dass die geistige
Umnachtung nach ihm griff? Ob er es überhaupt selber merkte? Oder merkten es
nur die anderen?
    Sie entschloss sich, einen Abstecher zum Strand zu machen, um den
alten Mann dort zu vergessen. Das Pfefferfleisch, das vier Stunden kochen
musste, hatte sie am Abend vorher zubereitet, es brauchte nur noch einmal
erhitzt und aufgeschnitten zu werden. Die Artischocken hatte sie schon am
frühen Morgen gefüllt, sie mussten noch eine halbe Stunde gebacken werden, dann
waren sie servierfertig. Und die Tortelloni mit der Champignonsoße waren
schnell gemacht. Sie hatte also Zeit, sich das Meer anzusehen.
    Als sie nach links in die Rote-Kreuz-Straße einbog und auf die Dünen
zufuhr, hätte sie beinahe vor dem Wind kapituliert. Nur mit letzter Kraft
schaffte sie es bis zum Parkplatz am Restaurant »Seenot«, wo sie das Fahrrad
abstellte. Sie stieg hinauf zu den Holzplanken, die sich oberhalb des Strandes
Richtung Wenningstedt entlangzogen. Dort lehnte sie sich ans Geländer, hielt
ihr Gesicht dem Wind entgegen und sah aufs Meer hinaus.
    Wie sollte sie nur in ihrem Dorf erzählen, was sich hier abspielte?
Wie konnte es in Worte gefasst werden, dieses Heranrollen der Brandung, die
gewaltige Kraft, mit der die Brecher sich auf den Sand warfen, die tief
hängenden, aufgerissenen Wolken, die schneeweiße Gischt, die noch weißer
erschien, wenn für wenige Augenblicke die bleiche Wintersonne ins Meer stach.
Dieses Bild zu beschreiben, würde schwierig werden. Keine Frage, dass sie es
versuchen würde, wortreich, mit kleinen Übertreibungen, mit Augenrollen, tiefem
Seufzen und großen Gesten. Aber sie bezweifelte, dass es ihr gelingen würde.
Man musste die eisigen Spitzen des Windes auf der Haut spüren, die Seeluft
riechen und das Salz von den Lippen geleckt haben, erst dann konnte man sich
vorstellen, was es hieß, an einem stürmischen Tag am Meer zu stehen.
    Sie hatte Mühe, sich von
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