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Flamingos im Schnee

Flamingos im Schnee

Titel: Flamingos im Schnee
Autoren: Wendy Wunder
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krebskranker Dreijähriger in einem Wartezimmer zu sitzen, auch ohne dass ihre Mutter dabei war.
    »Du hast es aber aus ihm herausgekitzelt, das weiß ich.«
    »Stimmt«, gab Cam zu.
    »Also?«
    »Also näh dir ’nen Knopf an.« Diese Antwort brachte Cam immer zum Lachen. Nur noch ihre Großmutter sagte das, wahrscheinlich, weil sie der einzige Mensch weit und breit war, der noch Knöpfe annähte.
    »Campbell.«
    Cam zog ein Stück Omelett durch den Ketchupbrei und deckte dann das Ganze einfach mit der Serviette zu. »Also, der Krebs ist überall. Fast. Es hat sich nichts verändert. Ach so, außer ein paar neuen Metastasen um die Nieren herum.«
    Der PET -Scanner hatte Cams Skelett als schimmernden Weihnachtsbaum gezeigt, um den hell leuchtende Tumorknötchen drapiert waren wie eine Lichterkette. Das Schnittbild ihres Rumpfes sah irgendwie außerweltlich aus, wie eine Aufnahme des Hubble-Teleskops oder von irgendwelchen Meerestiefen, eine trübe Unterwasserwelt, abgesehen auch hier von den glühenden Lavabrocken der Tumore, die Dr. Handsome gar nicht gefielen.
    Dr. Handsome – er hieß wirklich so, was zu endlosen Witzeleien darüber führte, ob er ein echter Arzt war oder nur einen Fernsehdoktor spielte – hatte seinen Silberkuli vor den Computerbildschirm gehalten und ihn als Zeigestab benutzt, mit dem er einen Kreis um das gelborangefarbene Leuchten um ihre Nieren beschrieb. Er gebrauchte diesen silbernen Stift bei jedem Besuch. Was so einige Schlüsse über ihn zulässt , dachte Cam. Der Stift war bestimmt ein Geschenk von jemandem, und das bedeutete, dass es Menschen gab, die ihn gernhatten oder liebten und stolz auf seinen Arztstatus waren. Und dass er sentimental war, weil er darauf achtete, ihn nicht zu verlieren. Entweder das, oder er war ein bisschen zwanghaft. Detailverliebt. Was eine gute Eigenschaft für einen Arzt ist , sagte sie sich. Man wollte schließlich keinen nachlässigen, schusseligen Doktor. Sie selbst behielt einen Stift höchstens fünf Tage lang. Dr. Handsome und sie waren sehr verschieden.
    »Es ist nicht das, was wir zu sehen gehofft hatten«, hatte er gesagt, während er noch einen kleinen Looping mit dem Kuli vollführte und ihn dann schlaff zwischen Daumen und Zeigefinger hängen ließ. Er fuhr sich mit der freien Hand durch die schwarzen Haare und seufzte.
    Das war das erste Mal, dass Cam eine negative Reaktion bei ihm sah. Sonst war er immer so positiv. Seine Haltung an diesem Tag wirkte ziemlich mutlos.
    »Vielleicht ist das da« – Cam nahm ihm den Stift ab und umriss das Orange – »mein zweites Chakra, wissen Sie? Ich glaube, da soll es ungefähr sein. Das zweite Chakra ist das orangefarbene Chakra. Der Sitz von Kraft und Veränderung. Kann dieser Apparat Chakren und Auren und all so was abbilden?«
    Dr. Handsome versuchte, etwas zu sagen, musste aber schlucken. Fängt er jetzt etwa an zu weinen? , dachte Cam. Tatsächlich.
    »Cam …« Er nahm sich zusammen. »Entschuldige bitte. Ich bin nur sehr, sehr müde … Cam, wir können nichts mehr tun.«
    Cam ging schon seit fünf Jahren zu ihm und dachte, sie hätte ihn in allen Stimmungslagen erlebt. Er benahm sich manchmal albern und überdreht, wenn er müde war, und er konnte toll mit den Kleinen umgehen. Er hatte ein Stehaufmännchen in Form eines Gummiclowns in seinem Sprechzimmer, damit die Kinder vor ihrem Termin ein bisschen Dampf ablassen konnten. Cam versetzte dem Clown nun einen leichten Boxhieb, sodass er vor- und zurückschwang. »Aber Sie sind doch Dr. Handsome«, erwiderte sie. Sie wusste, dass er am ausgeglichensten war, wenn er in seinem medizinischen Fachwissen aufging. »Packen Sie die Emotionen weg und kramen Sie Ihr Medizinerkauderwelsch hervor. Sie müssen ganz kühler, knallharter Wissenschaftler sein. Sagen Sie Sachen wie Malignität oder subkutan und so was. Dann fühlen Sie sich besser.«
    »Die Wissenschaft reicht in diesem Fall nicht aus, Campbell-Suppe. Was du brauchst, ist ein Wunder.«
    Cams Mom saß in ihrem Lieblingsliegestuhl und blätterte in der Zeitschrift InStyle . Sie stellte ihren Kaffee auf dem Glastisch ab und fragte, ohne aufzusehen: »Und, gibt es einen neuen Test, an dem wir teilnehmen können?« Sie gab sich gelassen, aber Cam sah, dass die verräterische Linie zwischen ihren Augenbrauen von einem Fältchen zu einer tiefen Furche geworden war.
    »Nein, es gibt nichts mehr.«
    »Es gibt immer irgendetwas«, widersprach sie und blätterte zu einem Artikel um, der den Leserinnen
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