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Flamingos im Schnee

Flamingos im Schnee

Titel: Flamingos im Schnee
Autoren: Wendy Wunder
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zeigte, wie sie den neuesten Trend – schwarze Spitze – tragen sollten, und zwar mit zwanzig plus – Strümpfe –, dreißig plus – kleines Schwarzes – und vierzig plus – nie! –.
    »Wir haben alle Tests durch, Mom. Alles, was sie jetzt noch versuchen könnten, würde mich schneller umbringen als der Krebs. Meine Werte waren nicht gut.«
    »Ich rufe noch heute dort an, Cam. Ich bring dich in irgendein Versuchsprogramm. Sie können dir wenigstens noch etwas mehr Cisplatin verabreichen«, sagte ihre Mutter und sah ihr endlich ins Gesicht.
    »Mom, du hörst mir nicht zu. Man kann nichts mehr machen.«
    »Dann gehen wir eben ins St. Jude’s oder Hopkins oder sonst wohin.«
    »Da waren wir doch schon. Im St. Jude’s sogar zweimal. Sie haben alles getan, was in ihrer Macht steht.« Cam war müde. Sie wollte jetzt nicht mehr daran denken. Sie wollte nur noch schlafen und für ein paar Stunden alles vergessen. Die neue, gummiartige Liegeauflage in Wellensittichgrün zischte leise, als Cam ihren Kopf zurückfallen ließ. Für ein paar Sekunden fühlte sich die Floridasonne angenehm auf ihrem Gesicht an, doch bald schon wurde aus der Wärme wieder heiße, schädliche Strahlung. »Dr. Handsome meint, ich brauche ein Wunder.«
    »Tja dann, Cam«, sagte ihre Mutter und ließ die Blase ihres ausgekauten Nicorette-Kaugummis platzen, »verschaffen wir dir eben ein gottverdammtes Wunder.«
    »Das ist jetzt nicht gerade taktisch geschickt.« Cam machte die Augen auf und sah in den wolkenlosen Himmel. »Man verdammt Gott nicht und bittet ihn dann um ein Wunder.«
    »Ich gebe nicht auf, Campbell! Ich werde dich nie auf geben.« Die letzten drei Silben schraubten sich zu einem Crescendo hoch, und der Schlussakkord kam von Alicias Hand, die auf den Glastisch niederging.
    »Der Krebs sitzt nicht in meinen Ohren«, murmelte Cam. »Noch nicht.«
    »Verdammt nochmal!«, schrie Alicia und donnerte ihren Kaffeebecher auf die Betoneinfassung des Pools. Er zerbrach mit einem dumpfen Knall.
    »Das wird dir leidtun. Das war der Weihnachtsmannbecher«, sagte Cam unbeeindruckt. Der Lieblingsbecher ihrer Mutter war mit einem inzwischen bis zur Unkenntlichkeit abgenutzten Foto von Cam und Perry auf Santas Schoß bedruckt, das vor zehn Jahren gemacht worden war.
    Cam war an solche Ausbrüche ihrer Mutter gewöhnt. Sie lebte schon seit Jahren damit. Irgendetwas war mit Alicia um die Lebensmitte herum passiert, sodass sie starke Gefühle – ob Traurigkeit, Angst, Freude, Verwirrung oder Hilflosigkeit – nur noch in Form von Wut äußern konnte. Besonders auffällig war das morgens nach ihrer ersten Tasse Kaffee. Ihre Mom behauptete, das sei hormonell bedingt. Cam dachte sich insgeheim, dass es Alicia-bedingt war.
    »Campbell, du musst mir glauben«, sagte Alicia, um Beherrschung bemüht. »Ich werde dich nicht sterben lassen.«
    »Das ist sehr beruhigend, Mom. Wirklich. Ich glaube dir. Jetzt muss ich ein Nickerchen machen.«
    Als Cam ihre Mutter umarmte und dann auf ihr Zimmer ging, wurde ihr bewusst, dass sie den Rest ihres kurzen Lebens damit zubringen würde, andere zu trösten und aufzumuntern, weil sie bald sterben würde.

V IER
    Cam hielt die Luft an und tauchte mit dem Kopf unter Wasser. Sie musste das fröhliche Rufen ihrer Nachbarn ertränken, die in einer Karawane zur Schule zogen, um an der Abschlussfeier teilzunehmen.
    Es war zu heiß, um die Feierlichkeiten auf dem Sportplatz abzuhalten, weshalb jeder Schulabgänger nur zwei Personen einladen durfte, die auf den begrenzten Plätzen in der klimatisierten Aula daran teilnehmen konnten. Cam hatte ihre Karten für die Abschlusszeremonie – »Zeremonnie« in teuerer Goldschrift falsch geschrieben – zwischen die Seiten 218 und 219 von Anna Karenina gesteckt.
    Sie öffnete blinzelnd die Augen in dem strahlenden Türkis des Pools. Man merkte weniger, dass man weinte, wenn man unter Wasser war. Außerdem kühlte das Wasser den hübschen blau gepunkteten Ausschlag, der sich immer mehr auf ihren Unterarmen ausbreitete und auch »Blaubeerflecken« hieß. Was für ein netter Name für eine Hautkrebsart.
    Das Brummen der Umwälzpumpe vibrierte aufwärts durch ihre Wirbelsäule, und sie ließ sich auf den glatten Grund des Pools sinken. Cam hatte beschlossen, die Abschlussfeier auszulassen. Durch die Chemo und die Testreihen hatte sie so viel Unterricht verpasst, dass sie zu den meisten Leuten sowieso kaum noch Kontakt hatte. Außerdem hatte sie keine Lust, sich die Zukunftspläne ihrer
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