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Finkenmoor

Finkenmoor

Titel: Finkenmoor
Autoren: Myriane Angelowski
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stellen.
    Glücklich über diesen Einfall ging sie früh zu Bett, schaltete den Rekorder ein und sah sich zum hundertsten Mal die DVD an, auf der Gina zufrieden in die Kamera lächelte, während sie gewickelt wurde. Schon nach wenigen Minuten weinte Diane hemmungslos. Immer wieder hielt sie die DVD an, speicherte jede einzelne Einstellung in ihren Gedanken und fragte sich, ob sie jemals aufhören würde, ihre süße Tochter zu vermissen.

Cuxhaven, Heinrich-Grube-Weg
    »Vier Minuten zu spät, Junge.« Berthold Dallinger schaute nicht einmal auf, als Ronny umgezogen und ordentlich gekämmt das Esszimmer betrat, um mit seinen Eltern zu Abend zu essen.
    »Entschuldigt«, sagte Ronny, nahm Platz und begann, Bouillon zu löffeln. Es kostete ihn wieder einige Überwindung, gepflegt am Tisch zu sitzen. Sein Vater hatte ihm die Mittagspause gestohlen, ihn den ganzen Tag mit Belanglosigkeiten genervt, was bedeutete, dass er keine Chance gehabt hatte, Dampf abzulassen.
    In der Suppe schwammen Nudelbuchstaben.
    Als kleiner Junge hatte er diese Brühe sehr langsam gegessen und in Gedanken Worte zu den Buchstaben gesucht. A wie Affe. W wie Winnetou. In der Pubertät ersetzte er Affe und Winnetou durch Arschloch und Wichser. Heute schwammen ziemlich viele Ks und Bs in der Suppe. Krepieren. Blut. Kaltmachen. Krepieren. Blut. Ronny schlang die Suppe im Rhythmus der gedachten Worte hinunter. Schneller und schneller. Schlürfte und schmatzte. Erst als er den Löffel auf die weiße Tischdecke legte, bemerkte er, dass seine Eltern ihn anstarrten.
    Ronny presste eine Entschuldigung hervor. Lächelnd. Was gibt es da zu glotzen . In seinen Gedanken musste er nicht nett sein, kein Blatt vor den Mund nehmen, bediente sich überwiegend einer ordinären Sprache, mit Kraftausdrücken, die er in Gegenwart seiner Eltern niemals benutzte. Er konnte morgens an den Frühstückstisch treten, sich zu seiner Mutter hinunterbeugen, ihr einen Kuss auf die Stirn geben und ein freundliches Guten Morgen über die Lippen bringen. Lächelnd und glaubwürdig. Die Eingebungen, die ihn dabei häufig überkamen, waren alles andere als manierlich.
    Gelegentlich stellte er sich vor, wie er seine Mutter vom Stuhl riss und ihr Schinkenspeck in den Mund stopfte, bis sie würgte. Oder er zwang seinen Vater, sich mit dem nackten Hintern in eine Schüssel kochender Erbsensuppe zu setzen, die Ronny hasste und trotzdem jeden Samstag schweigend aß, weil er eben ein guter Junge war.
    Seine Mutter erhob sich, räumte die Suppenteller ab und brachte den Hauptgang in Schüsseln auf den Tisch.
    Die Fleischplatte reichte sie gleich herum.
    Unter ihrem missbilligendem Blick nahm Ronny zwei Steaks, vier große Löffel Kartoffelpüree und beinahe alle Erbsen. Er wusste, dass sie innerlich explodierte, auch wenn sie kaum eine Miene verzog.
    »Junge, warum bist du bei den freiwilligen Sanitätern ausgetreten?« Sein Vater stellte diese Frage beiläufig, goss Butter aus der Sauciere über die Kartoffeln und nippte anschließend am Weißwein.
    Nicht jetzt. Nicht dieses Thema. Dem enttäuschten Blick seiner Mutter wich Ronny aus.
    »Ich brauche einfach mehr Zeit für mich«, murmelte er, als er die Stille nicht mehr aushielt, und piekte ein paar Erbsen mit seiner Gabel auf. Seine Eltern brauchten nicht zu wissen, dass er sich unter den Jungs unwohl fühlte. Die ständige Verarsche kotzte ihn an, die Arbeit selbst machte Spaß. Blut, Tote, Menschen, die um ihr Leben kämpften, das war schon sein Ding. Aber der Rest war einfach Scheiße.
    »Zeit für dich?« Die Stimme seines Vaters zeugte von reinstem Unverständnis. »Und die ganze Lernerei, dein Wissen über Anatomie? Mensch Junge, du könntest so viel Gutes bewirken …«
    »Und vielleicht sogar einmal Medizin studieren«, ergänzte seine Mutter.
    Berthold Dallinger warf seiner Frau einen missbilligenden Blick zu. Er mochte es nicht, wenn sie das Arztthema anführte. Früher hatten sie sich deswegen häufig gestritten. Annemarie Dallinger empfand es als Verschwendung, dass ihr Sohn in der Firma seines Vaters versauerte. »Der Junge bleibt weit unter seinen Möglichkeiten.« Diesen Spruch sagte sie gebetsmühlenartig auf, wenn sich die Möglichkeit ergab, und scherte sich nicht darum, dass kaum jemand ihre Meinung teilte.
    Einen Moment lang herrschte erneut Schweigen am Tisch.
    »Die Kleine von gegenüber zieht aus«, sagte Dallinger, vielleicht um ein weniger brisantes Thema anzuschneiden.
    »Wer?« Seine Mutter klang gereizt. Im
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