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Finkenmoor

Finkenmoor

Titel: Finkenmoor
Autoren: Myriane Angelowski
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Piercingmaschine, hatte Ronny gedacht und leise gekichert.
    Um Punkt zwölf piepste sein Timer. Ronny öffnete die Schreibtischschublade und hob die lose Blattsammlung hoch. Blitzschnell nahm er das Fleischermesser darunter an sich, schob es in seinen linken Ärmel und fixierte es mit dem Gummiband, das er für diesen Zweck am Handgelenk trug. Ihm blieben genau fünfundvierzig Minuten bis zum Mittagessen mit seinen Eltern. Wenn er sich beeilte, konnte er das kleine Zeitfenster nutzen, um Dampf abzulassen. Ja, das war dringend nötig.
    Die »Pistole« hielt er in der Hand, als er mit schnellen Schritten zu seinem Wagen ging. Das klobige Ding passte nicht in seine Anzugjacke. Egal. Konnte doch jeder sehen, dass er den Tacker mitnahm. Immerhin war er Juniorchef. Wer sollte ihm Vorschriften machen?
    Zügig startete er den Motor seines Wagens und näherte sich dem Tor des Firmengeländes. Die schwarze Limousine seines Vaters kam ihm entgegen und hielt neben ihm.
    Der Senior ließ die Scheibe hinunter. »Wo willst du denn hin?«
    »Mittagessen, Mutter wartet.«
    »Junge, daraus wird nichts!« Berthold Dallinger schob das Kinn vor. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass Ärger ins Haus stand. »Besprechung in meinem Büro in zwei Minuten!«
    Die Klinge des Messers, das Ronny im Ärmel seiner Anzugjacke verbarg, lag kalt auf seinem Unterarm. Am liebsten hätte er dem Alten den Stinkefinger gezeigt, Gas durchdrücken und mit quietschenden Reifen nichts wie weg. Aber Ronny holte tief Luft, wendete gehorsam und fuhr den Passat-Kombi zurück auf seinen persönlichen Parkplatz.

Cuxhaven-Lotsenviertel
    »Das riecht gut«, sagte Maxi und stieg auf eine umgedrehte Wasserkiste.
    Während die Butter zerlief, gab Diane unter der strengen Beobachtung des Kindes eine dünne Zuckerschicht auf zwei große Teller.
    »Jetzt in die Pfanne«, rief Maxi aufgeregt, als sie sah, dass das Fett braun wurde. Diane ließ Zucker in die Pfanne rieseln, drehte parallel das Gas kleiner, während Maxi begann, die Masse gleichmäßig zu verrühren.
    Die Kleine zog die Nase hoch. »Marvin hat gesagt, Mama ist tot, weil sie zu schnell gefahren ist.«
    »Welcher Marvin?«
    »Aus meiner Klasse.«
    »Das stimmt nicht.« Diane drückte Maxi an sich. »Deine Mama ist gestorben, weil der Mann, der ihr ins Auto fuhr, zu schnell gefahren ist.«
    »Ist meine Mama bei Gott?«
    »Auf jeden Fall! Sie ist einer von Jesus’ Engeln.«
    »Mit Flügeln?«
    »Natürlich, Süße. Mit riesigen weißen Federflügeln.«
    Diane legte ihre Hand auf die des Kindes. Gemeinsam rührten sie die Butter-Zucker-Masse, bis sie hellbraun wurde, und verteilten sie dann mit Löffeln häufchenweise auf die Teller. Nach nicht einmal fünf Minuten war die Arbeit geschafft.
    Karamellduft erfüllte die Küche.
    Maxi hüpfte auf einem Bein durch die Wohnung, in jeder Hand eine Langspielplatte. Zu Dianes Freude war das Kind ganz verrückt nach ihren alten Märchen und ließ dafür jede DVD im Regal stehen.
    »›Die Gänsemagd‹ oder ›Schneeweißchen und Rosenrot‹? Was sollen wir uns anhören?«
    »Mir egal«, sagte Diane.
    »Marvin hat gesagt, ich bin zu alt für Märchen.«
    »Dafür ist man nie zu alt.« Diane drückte Maxi einen Kuss auf ihre dunklen Locken. »Ich mag Märchen immer noch, und ich bin viel älter als du.«
    »Ja, du bist ziemlich alt«, stellte Maxi fest. »Kann ich Cola haben? Bitte.«
    Diane ging zum Kühlschrank und goss Cola in ein Glas. Sie fand es schwierig, Maxi gegenüber konsequent zu sein.
    »Tagesmutter gesucht«. Diese Anzeige hatte sie vor Jahren von Oldenburg ans Meer geführt. Mit gerade neunzehn hatte Diane den gut bezahlten Job begonnen, zu einem Zeitpunkt, als bei ihr gerade nichts rundlief.
    Die Bernsens öffneten ihr Haus und Herz. Wie sie das Ehepaar damals überzeugt hatte, war Diane ein Rätsel geblieben, aber sie vertrauten ihr die kleine Maxi an und gaben ihr damit neuen Lebensinhalt.
    Diane dankte es ihnen mit absoluter Zuverlässigkeit und Loyalität. Später vertraute sie Johann und Karen sogar ihr Geheimnis an, erzählte ihnen von den dunkelsten Stunden ihres Lebens und bereute es nie.
    Karens Unfalltod hatte Diane noch enger mit der Familie zusammengeschweißt, die Grenze zwischen ihrem Leben und dem der Bernsens fast vollständig aufgehoben. Für Maxi da zu sein, sie zu beschützen, wurde Dianes oberstes Ziel und Lebensaufgabe.
    Zurzeit holte sie die Kleine mindestens dreimal die Woche von der Schule ab, passte ihre Tage dem Rhythmus des
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