Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Finkenmoor

Finkenmoor

Titel: Finkenmoor
Autoren: Myriane Angelowski
Vom Netzwerk:
Anton nicht, was Timm einen kleinen Stich versetzte, und so verließ er betrübt das Freibad.
    Als er sich dem Laternenpfahl näherte, sah er sofort, dass sein Mountainbike verschwunden war. Trotz mangelnder Aussichten auf Erfolg suchte er die Umgebung ab. Fehlanzeige.
    Völlig verschwitzt und sauer machte er sich schließlich auf den Heimweg. Vierzig Minuten latschen und dann noch die Strafpredigt, die ihn erwartete. Keine der Aufgaben war erfüllt, die seine Mutter ihm aufgetragen hatte. Auch deshalb war er nicht scharf drauf, nach Hause zu kommen. In Gedanken trottete Timm vorwärts, stolperte über seine Schnürsenkel.
    Die Luft war erfüllt von gebratenem Fleisch. Timms Magen knurrte, ihm lief das Wasser im Mund zusammen, wenn er an Bratwurst mit Kartoffelsalat dachte. Zudem hatte er Durst. Riesigen Durst. Dieser blöde Fußmarsch. Das Geld fiel ihm ein. Hoffentlich hatte seine Mutter nicht bemerkt, dass ein Schein fehlte.
    »Timm!« Der altersschwache Golf hielt direkt neben ihm. »Wo ist dein Rad?«
    Rolf Kallwitz. Timm ging näher, lehnte sich in das Fenster der Beifahrerseite. »Geklaut!«
    Das Gesicht des Aushilfstrainers glänzte, er schob die verspiegelte Sonnenbrille auf die Stirn. »Soll ich dich heimfahren? Es macht mir nichts aus, ehrlich!«
    Timm zögerte. Der Betreuer hatte ihm neulich fünf Euro geliehen. Hoffentlich wollte er die Kohle jetzt nicht zurück.
    »Los, komm!«
    Timm stieg ein. Dankbar ließ er sich auf den Beifahrersitz fallen. Der Tag hatte Kraft gekostet und war noch nicht zu Ende. Seine Probleme türmten sich gerade haushoch. Wenn Rolf ihn fuhr, war er auf jeden Fall vor seiner Mutter zu Hause und konnte schnell ein paar Sachen erledigen, vielleicht sogar das Leergut wegbringen. Der Betreuer fuhr los und erwähnte das Geld nicht.
    So sprudelten die Ungerechtigkeiten des Tages aus Timm heraus, während warmer Fahrtwind seine Haare zerzauste. Es überkam ihn weder Misstrauen noch eine dunkle Vorahnung, als Rolf eine fadenscheinige Erklärung murmelnd die Hauptstraße verließ und den Wagen in ein nah gelegenes Waldstück lenkte. Selbst als der Trainer das Auto an einer Stelle stoppte, die von dichten Hecken umgeben war, und den Motor ausmachte, plapperte Timm ahnungslos von seinen gigantischen Arschbomben und beschwerte sich über Nicks Hänseleien.
    Der Schlag an die linke Schläfe überraschte ihn völlig.
    Sein Kopf knallte gegen das halb geöffnete Fenster. Irritiert und erstaunt starrte Timm den Betreuer an. Im gleichen Moment wälzte sich Rolf auf ihn, riss ihm mit einer Hand die Shorts herunter und rammte ihm gleichzeitig seine behaarte Faust zwischen die Zähne.
    Die Mundwinkel des Jungen rissen. Angst. Fassungslosigkeit. Entsetzt fixierte Timm den Trainer aus aufgerissenen Augen, strampelte mit den Beinen, rang verzweifelt unter Tränen nach Luft.
    Als Rolf ihn ruckartig auf den Bauch drehte, jaulte Timm laut auf.
    »Schnauze«, keuchte der Betreuer direkt an seinem Ohr. »Noch ein Mucks, und ich schlitz dich auf!«
    Da lag Timm still, wie paralysiert.
    Der Gestank von ekligem Schweiß war das Letzte, was er roch, bevor ein unbeschreiblicher Schmerz seinen schmächtigen Körper durchfuhr und er das Bewusstsein verlor.
    So erfuhr Timms Geist nichts von den menschlichen Abgründen und dem Ausmaß an perversen Grausamkeiten, vor denen seine Eltern ihn bis zu diesem Tag erfolgreich beschützt hatten.

Cuxhaven 2012, Haydnstraße
    Jasons Kopf kam kurz nach Neujahr mit der Post.
    Norma schrie beim Anblick des kreideweißen Gesichtchens mit den toten Augen laut auf. Reflexartig warf sie den haarlosen Kopf in das Paket zurück und sackte bleiern auf einen Stuhl. Gedanken brausten auf und schleuderten sie mit Wucht zur Leichenhalle, so sehr glich dieses Antlitz einem Säugling, dem der Tod jedes Leben ausgehaucht hatte. Sieh weg, schau einfach nicht hin . Es gelang ihr nicht.
    In Schockstarre saß sie da. Minutenlang.
    Schließlich fand ihr Blick die Überschrift auf dem Beipackzettel. »Rebornset für Anfänger«. Norma schaffte es, die Augen zu schließen. Halt dich an die Fakten. Es ist ein hochwertiges Vinylbaby. Kein echtes Kind.
    Reallife. Aber künstlich. Du musst sachlich an die Sache herangehen. Denk an die Erfahrungsberichte in den Internetforen. Die meisten Menschen erschrecken beim Anblick ihrer ersten Lieferung.
    Norma wischte kalten Schweiß von ihrer Stirn, stand auf und näherte sich, diesmal vorsichtig, erneut dem Paket. Zögernd berührte sie den kleinen Kopf, legte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher