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Filzengraben

Filzengraben

Titel: Filzengraben
Autoren: Petra Reategui
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mitten im Blätterwald.
    Niemand hatte ihn gesehen.
    Er griff nach dem Ast über sich, hangelte sich in die zweite Etage
und war nun völlig unsichtbar.
    Aber dafür sah Jacop umso mehr, und der Anblick ließ sein Herz höher
schlagen.
    Rings um ihn prahlte die Natur mit verschwenderischer Fülle. Nichts
auf der Welt hätte es mit diesen Äpfeln aufnehmen können. Gierig griff er zu,
seine Zähne durchschlugen die feste grüne Haut und rissen die Frucht in zwei
Hälften. Saft lief ihm übers Kinn. Der Apfel verschwand wie in einem Mahlwerk,
ein zweiter folgte wenige Sekunden später, von dem dritten blieb immerhin der
Stiel.
    Jacop rülpste laut und sah erschrocken durch das Laub nach unten.
    Keine Gefahr.
    Er würde schreckliche Bauchschmerzen zu leiden haben, das wusste er.
Sein Körper hatte nichts als Säure zu verarbeiten. Aber Bauchschmerzen gingen
vorüber. Jetzt, nachdem sein erster Hunger gestillt war, konnte er sich daran
machen, weitere Beute in seinem neuen und dankenswerterweise weiten Mantel zu
verstauen. Er dachte an Tilman und an Maria, die Frau, unter deren Dach er
manchmal Quartier fand, wenn ihr Geschäft es zuließ oder sich der Winter allzu
ungnädig gebärdete. Seinen eigenen Bedarf hinzugerechnet, kam er nach
mühseligem Abzählen an den Fingern auf drei mal zehn Äpfel.
    Besser, keine Zeit zu verlieren!
    Der Einfachkeit halber pflückte er zuerst die besten Stücke in
unmittelbarer Griffweite. Dann sah er nur noch mindere, kleine Früchte um sich
herum, ohne dass er annähernd genug beisammen hatte. Vorsichtig schob er sich
den Ast entlang. Er hing nun mitten über der Gasse. Während er sich mit der
Linken festklammerte, wanderte seine andere Hand geschäftig hin und her und
bediente sich ausgiebig. Von dem, was hier wuchs, ließen sich Familien ernähren.
    Die schönsten Äpfel lockten noch weiter vorne, aber er würde nur
drankommen, wenn er sich noch weiter vorwagte. Kurz erwog er, sich mit dem
Erbeuteten zu begnügen. Aber wenn er schon mal in den Obstbäumen des
Erzbischofs saß, wollte er sich mit nichts weniger zufrieden geben als Konrad
selber.
    Er kniff die Augen zusammen und kroch ein weiteres Stück vor. Der
Ast wurde merklich dünner, ragte jetzt über das Gelände der Dombaustelle. Hier
teilte sich das Blattwerk und gab den Blick auf den von Gerüsten eingepferchten
Domchor frei. Niemand war mehr darauf zu sehen. Morgen beim ersten Hahnenschrei
würde wieder reges Treiben, Schreien, Hämmern und Dröhnen die Hacht erzittern
lassen, aber nun lag das Gelände in einem seltsamen, entrückten Frieden da.
    Einen Moment lang war Jacop verblüfft, wie nahe das Halbrund der
steil emporstrebenden Fenster und Säulen ihm erschien. Oder spielten ihm seine
Sinne einen Streich? War es lediglich die enorme Größe, die dem Wunderwerk eine
Präsenz verlieh, als könne man es mit der bloßen Hand berühren? Aber es sollte
ja noch viel größer werden! Mehr als doppelt so hoch, ohne die Türme! Kaum
vorstellbar.
    Und im Moment nicht wichtig. Jacop wandte seine Aufmerksamkeit
wieder den Äpfeln zu. An einem Dom, hatte Maria gemeint, kann man sich nicht
sattsehen.
    Eben.
    Im Augenblick, da seine Finger sich zu einem wahren Prachtexemplar
vortasteten, tauchte hoch oben auf den Gerüsten plötzlich eine Gestalt auf.
Jacop zuckte zurück und drückte sich dichter an die schroffe Rinde. Besser,
sich zurückzuziehen! Aber das wäre zu schade gewesen. Lieber einfach eine Weile
ruhig verhalten. Die Blätter überschatteten ihn, so dass er zwar alles sehen,
aber kaum gesehen werden konnte. Neugierig folgten seine Augen dem Mann auf
seinem Weg über die Planken. Selbst auf die Entfernung sah man, dass er teuer
gekleidet war. Sein Mantel wies üppigen Pelzbesatz auf. Er ging aufrecht wie
jemand, der gewohnt war, zu befehlen. Von Zeit zu Zeit rüttelte er an den
Stangen des Gerüsts, wie um sich zu vergewissern, dass sie zusammenhielten.
Dann wiederum legte er die Hände auf die Brüstung und schaute einfach in die
Tiefe.
    Auch wenn Jacop nur ein Gaukler und Tagedieb war, der niemanden
kannte außer seinesgleichen, wusste er, wer da drüben sein Werk inspizierte.
Jeder kannte den Dombaumeister. Gerhard Morart ging der Ruf voraus, für seinen
Plan den Teufel herbeibemüht zu haben. Steinmetz von Profession, war er seit
seiner denkwürdigen
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