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Filzengraben

Filzengraben

Titel: Filzengraben
Autoren: Petra Reategui
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gehabt hatte. Sie brauchte nur ihren Vater zu sehen, wie er, breitbeinig den Elementen trotzend, seine Männer befehligte, und sie wurde ganz ruhig. Ihr Vertrauen in ihn war grenzenlos, er würde sie alle heil und unversehrt zu ihrem Zielhafen bringen, nach Düsseldorf, Dordrecht, Rotterdam oder wohin auch immer. So dachte sie damals.
    Heute war sie allerdings nicht mehr so sicher, ob ihr Vater wirklich jeden Sturm, jede heimtückische Stromschnelle meistern könnte. Sicher, er hatte die Rheinschifffahrt von klein auf gelernt, er war geschickt und besaß eine Menge Erfahrung. Aber auch Glück und Gottvertrauen gehörten dazu. Anna war jedes Mal erleichtert, wenn ihr Vater wieder heil und gesund in Köln anlegte.
    Sie trat vor die Rheinkarte, die zwischen Kontobüchern und Aktenbündeln an der Schrankwand hing. Vor drei Tagen hatte sie den letzten Brief ihres Vaters erhalten und ihn wie immer zusammengefaltet in die Spalte zwischen Papier und Rahmen gesteckt. Er hatte aus Emmerich geschrieben. Die Fahrt verzögere sich um einen Tag, aber wenn sich das Wetter halte, kämen sie pünktlich in Dordrecht an. Mit den Augen verfolgte Anna den Flusslauf bis zu dem niederländischen Hafen. Wahrscheinlich lag der Vater schon längst dort vor Anker. Sie wünschte, sie könnte bei ihm sein wie früher.
    Als Kind saß sie am liebsten mitten unter den Schiffsleuten und lauschte fasziniert den verschiedenen Sprachen, in denen die Männer fluchten, stritten, sangen und sich abenteuerliche Geschichten erzählten. Sie schnappte französische Brocken auf und italienische, Letzeburgisch und Alemannisch. Holländisch konnte sie ohnehin vom Vater, und mit der Mutter sprach sie deutsch, wie es die Leute um Bacharach herum redeten. Wenn sie sich dann breitbeinig wie ihr Vater vor den Schiffsknechten aufpflanzte und das Gehörte zum Besten gab, konnten diese sich vor Lachen kaum beruhigen und überboten sich darin, ihr Nüsse, Früchte und andere Leckereien zuzustecken. Anna genoss es, so verwöhnt zu werden. Nur die Mutter schimpfte und holte das kleine Mädchen vom Deck weg in die Küche. Dann saß sie schmollend beim Rübenschnippeln oder Erbsenpulen, zählte leise: » Un, deux, trois – quattro, cinque, sei  – sieben und acht, sag gut’ Nacht – negen en tien , du bist hin« und schob sich bockig eine Handvoll der süßen grünen Dinger in den Mund.
    Mit dreizehn brachte ihr Vater sie zur Familie nach Utrecht. Es schicke sich nicht, dass sie noch länger unter all den rauen Mannskerlen lebte. Also wurde sie in dem kleinen Städtchen zwischen Oudegracht und Nieuwegracht zur Schule geschickt, worüber sie nicht unglücklich war, lernte Lesen und Schreiben und von ihrem Onkel, einem Pfarrer, sogar ein paar Brocken Latein. Am meisten Gefallen aber fand sie zur Überraschung ihres Vaters an Mathematik. Und daher nahm er sie eines Tages mit nach Köln zu seinem alten Freund, dem Spediteur und Kommissionär Paul Dalmonte. Anna war gerade siebzehn Jahre alt. Wäre sie nicht die Tochter seines Schiffsmeisters gewesen, der Lombarde hätte es schlichtweg abgelehnt, eine junge Frau als Kontorgehilfin aufzunehmen. Andererseits wuchs ihm die Arbeit über den Kopf, und alle Versuche, einen guten Schreibergesellen zu bekommen, hatten sich bisher als Reinfall erwiesen. Ein ganzes Jahr später, in einer sehr schwachen Stunde, gestand er ihr, dass sie seine Vorstellungen von weiblichen Fähigkeiten gründlich durcheinander gebracht habe.
    Anna wurde warm, als sie daran dachte.
    Sie klaubte die letzten Splitter aus der Haut und wischte sich vorsichtig die Hände an einem Leintuch ab. Noch immer stak ihr der Duft des Aqua mirabilis in der Nase. Neroli ! Bergamotte! Vielleicht auch ein wenig Lavendel? Nein, eher Rosmarin. Abwechselnd roch sie an der linken und an der rechten Handinnenfläche. Selbst unter den Fingernägeln haftete der zarte Geruch. O ja, es stimmte, was die Leute behaupteten! Das Wunderwasser befreite die verstopften Gänge des Gehirns. Sie fühlte sich plötzlich erfrischt und heiter. Schade um die schöne Flasche, schade um den kostbaren Inhalt, von dem nur noch ein dunkler Fleck auf den Steinfliesen übrig geblieben war.
    Mit dem Teller in der Hand machte sie sich auf die Suche nach Herrn Dalmonte. Als sie am Fenster vorbeikam, sah sie, dass der Regen nachgelassen hatte. Es nieselte noch ein
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