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Filzengraben

Filzengraben

Titel: Filzengraben
Autoren: Petra Reategui
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keiner hatte von den Gerüchen geredet. Von den Ausdünstungen der Kloaken, der beißenden Luft in den engen Vierteln der Gerber und Färber, vom bestialischen Gestank nach Blut und Innereien, der vom Tiermarkt und aus den Schlachtereien kam, und von dem Mief faulender Fische im Hafen. Er wusste nicht, was schlimmer war, der Atem dieser Stadt oder der beißende Geruch von Ruß, der ihm jahrelang in die Nase stach, in Mund und Kehle drang und sich auf die Bronchien legte. Als der Husten ihm fast die Brust zerriss, hatte er es nicht mehr ausgehalten. Mitten in der Nacht war er damals auf und davon gerannt, mit nichts anderem am Leib als seiner dreckigen Schornsteinfegerkluft und seinem Sacchettino, einem grauen, speckigen Beutel, in dem er das wenige Geld versteckte, das er dem Patron, dem Faìsc , verheimlicht hatte. Der würde toben, wenn er bemerkte, dass er weggelaufen war, und die anderen Jungs würden es büßen müssen. Mit Schlägen und Essensentzug, aber er konnte einfach nicht mehr. Noch heute verfolgten ihn der Ruß und die schwarze Enge der Kaminschächte bis in seine Träume.
    Giacomo saß auf einem Stein am Fluss. Trotz der Kälte hatte er die Schuhe ausgezogen und seine Füße in den feuchten Sand gegraben. Auf dem grünbraunen Wasser dümpelten Enten und Blässhühner. Gegenüber auf der kleinen Rheininsel stand unbeweglich ein Reiher im Schilfdickicht. Rechts, wo die Stadt zu Ende war, erhob sich der trutzige Bayenturm. Hier draußen vor der Stadtmauer fühlte er sich wohl. Die Luft war sauber, fast so sauber wie im Valle. Zum Leben reichte das allerdings nicht, er hatte schon wieder Hunger.
    Am Nachmittag war er bei Farina gewesen. Der Laden war schnell gefunden. Wen er auch fragte, alle zeigten ihm sofort den Weg zur Straße Obenmarspforten. Der Diener aber, der ihm die Tür öffnete, versperrte ihm den Eintritt, kaum dass er die Löcher in seiner Kleidung sah.
    Â»Ein Landsmann? Das behaupten sie alle. Aber Signor Farina stellt niemanden ein«, näselte der Kerl von oben herab. Als Giacomo seinen Fuß zwischen die Tür schob, trat ihm das Faktotum vors Schienbein und stieß ihn zurück auf die Straße.
    Â» Va al diavolo !«, giftete er hinter ihm her.
    Â»Der Hinkefuß hat mehr Herz als ihr alle zusammen«, schrie Giacomo zurück. »Wenn ihr erst mal Geld in der Tasche habt, vergesst ihr, dass ihr auch mal aus der Gosse gekommen seid. Dreckskerl, dreckiger! Cuiún ! «
    Das Schienbein schmerzte noch immer, er konnte zusehen, wie sich die Haut verfärbte.
    Der Reiher gegenüber hatte mit einer blitzschnellen Bewegung einen Fisch gefangen und ihn hinuntergewürgt. Jetzt breitete er seine Flügel aus und hob schwerfällig vom Boden ab. Eine kurze Strecke flog er langhalsig übers Wasser, dann gewann er an Höhe, nahm den Kopf zurück und zog über Giacomo hinweg. Um ihn herum war es still, nur ein paar Vögel zirpten in den Abend, das Wasser klatschte leise schmatzend ans Ufer. Von einem nahen Kirchturm schlug es sechs.
    Giacomo wischte sich den Sand von den Füßen und rieb sich die Zehen warm. Dann schlüpfte er in seine Schuhe und machte sich auf den Weg zurück in die Stadt. Für Dollbier hatte er kein Geld.
    Es war erstaunlich ruhig auf dem Holzmarkt. Die Sonne verschwand eben hinter den Häusern und tauchte die heruntergekommenen Fassaden in gnädiges Dämmerlicht. Ein paar abgerissene Subjekte lungerten um den Eingang eines Gebäudes herum, das auch einmal bessere Tage gesehen hatte.
    Â»He, du!«
    Der Ruf schreckte Giacomo aus seinen Gedanken.
    Â»Tilman?«
    Â»Ja, ich. Du hast wohl keine Augen im Kopf.«
    Â»Ich hab dich nicht gesehen.«
    Â»Oder nicht sehen wollen! Willst dich vielleicht mit einem wie mir nicht abgeben.«
    Er bleckte die Zähne, zog sein langes Hemd aus der Hose und kratzte sich lustvoll die schrundige Haut über dem nackten Bauch.
    Â»Nein, nein!« Giacomo tat es leid, dass er Tilmann nicht sofort erkannt hatte.
    Â»Komm, setz dich!« Der Bettler klopfte auf die Steinbank, auf der er saß. »Mach mal Platz für unseren Bruder«, schnauzte er einen vor Schmutz starrenden Kumpan an, der sich fast die ganze Sitzfläche angeeignet hatte.
    Erschreckt fuhr dieser hoch, rückte murrend zur Seite und sackte dann wieder in sich zusammen. Giacomo wehte eine Alkoholfahne ins Gesicht, gemischt mit dem Geruch von
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