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Fiasko

Fiasko

Titel: Fiasko
Autoren: Stanislaw Lem
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gegenüberliegende Ufer.
       Schwirrend flog das Seil hinüber und traf den Hang, die Haken fanden Halt, aber als er kräftig zog, gab der durchnäßte Boden beim ersten Ruck nach. Also öffnete er das Ventil, ein fauchender Luftstoß hob ihn in die Luft, es ging leicht wie auf dem Übungsplatz, er überflog die dunkle Rinne, auf deren Grund schlammiges Wasser stand, verringerte den in Strömen kalten Gases gegen seine Beine schlagenden Schub und ging an der von ihm ausersehenen Stelle nieder, hinter einer Wölbung, die von oben ausgesehen hatte wie ein riesiges, unförmiges Brot, das in rauhen Asbest gebacken worden war. Anf dem glitschigen Boden glitten ihm die Beine auseinander, aber er kam zum Stehen. Allzu steil war es hier nicht. Er fand sich umgeben von bauchigen, gedrungenen Lehmhöckern. Sie waren aschfarben und trugen nur dort hellere Streifen, wo der Regen von ihnen ablief. Das im Nebel verlorene, verlassene Dorf eines primitiven Negerstammes. Oder ein Begräbnisplatz mit Hügelgräbern. Tempe nahm den Biosensor aus dem Rucksack und hielt ihn kaum einen Schritt weit an die gewölbte rauhe Wand. Der Zeiger zitterte im roten Maximum wie ein schwaches Voltmeter, das an einen gewaltigen Dynamo geschaltet wird. Den Lauf des schweren Sensors wie eine schußbereite Waffe vor sich herstreckend, lief der Pilot um den grau verkrusteten Buckel herum, der aus dem Lehm ragte. Die Stiefel des Menschen schmatzten und hinterließen tiefe Spuren, die sich sogleich mit trübem Regenwasser füllten.
       Tempe hetzte bergauf, von einem dieser unförmigen Brotlaibe zum anderen. Oben abgeflacht, überragten sie ihn um eine halbe Manneslänge, waren genau passend für Bewohner von der Größe der Menschen, besaßen aber keinerlei Öffnung, weder Tür noch Fenster, nicht einmal einen Sehschlitz. Folglich konnten es keine Bunker sein, Gräber aber ebensowenig, denn wohin Tempe auch seinen Sensor richtete — überall brodelte Leben. Um einen Vergleich zu gewinnen, hielt er den Lauf auf die eigene Brust: Der Zeiger ging vom extremen Ausschlag sofort bis in die Mitte der Skala zurück. Vorsichtig, um ihn nicht zu beschädigen, legte er den Biosensor nieder, nahm den zusammengeklappten Feldspaten aus der Tasche am Oberschenkel, kniete sich hin und grub den nachgiebigen Lehm auf. Das Werkzeug knirschte auf einer Kruste, Tempe schleuderte den Schlamm beiseite, der unter den Spatenstichen hervorquoll, Wasser füllte das rasch tiefer werdende Loch, er hatte schon gegraben, so tief er konnte, der Arm steckte bis an die Schulter in der Grube — da stieß er plötzlich auf den Widerstand einer horizontalen Verzweigung. Das Wurzelgeflecht versteinerter Pilze? Nein, es waren dicke, glatte, runde Leitungen, weder kalt noch heiß, sondern — eben das traf ihn wie ein Schlag — warm. Keuchend, dreckverschmiert, sprang er auf und krallte die Faust in die faserige Kruste. Trotz einiger Festigkeit gab sie elastisch nach und kehrte in ihre vorherige Gestalt zurück. Er lehnte sich mit dem Rücken an sie. Durch den Regen sah er noch mehr dieser Buckel, mit gleicher Nachlässigkeit gebildet. Einige standen näher zueinander, bildeten krumme Gassen, die den Hügel hinaufstiegen, wo der Dunst sie verschlang.
       Plötzlich fiel ihm ein, daß der Biosensor in zwei Bereichen arbeitete: Er ließ sich von dem auf Sauerstoff beruhenden Metabolismus auf einen Stoffwechsel umschalten, der ohne Sauerstoff auskam. Den ersteren hatte er bereits entdeckt.
       Tempe hob das Gerät auf, wischte mit dem Handschuh das lehmverschmierte Glas sauber, stellte auf anaeroben Metabolismus um und hielt die Mündung an die rauhe Oberfläche. Der Zeiger schlug aus, in einem nicht allzu schnellen, gleichmäßigen Puls. Waren es demnach Aerobionten und Anaerobionten zugleich? Wie konnte das sein? Er kannte sich darin nicht aus, aber das hätte hier wohl niemand gekonnt.
       Im Regen durch die Schlammbäche stapfend, geriet er an immer andere Buckel. Die metabolischen Pulsschläge unterschieden sich voneinander in der Geschwindigkeit. Konnte es sein, daß die einen schliefen und die anderen wachten? Wie um die Schlafenden zu wecken, schlug er mit der Faust gegen die rauhen Wanste, den Puls aber änderte er damit nicht. Er war so in Fahrt gekommen, daß er in einer der Gassen beinahe über eines der Antennenseile gestürzt wäre, das sich schräg in den milchigen Nebel spannte, hinauf zu den Maschen des jetzt unsichtbaren Spinnennetzes. Er hatte gar nicht
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