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Fey 10: Das Seelenglas

Fey 10: Das Seelenglas

Titel: Fey 10: Das Seelenglas
Autoren: Kristine Kathryn Rusch
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Matthias weiter.
    »Ich dachte, du wolltest die Worte studieren«, wich Pausho aus.
    »Ich suche etwas, das uns weiterhilft«, konterte Matthias.
    »Die Edelsteine können uns nicht helfen.« Paushos Ton war streng und endgültig, und Matthias fragte sich, ob sie log. Aber im Moment konnte er es sich nicht leisten, Forderungen zu stellen. Er mußte sich mit dem begnügen, was man ihm zur Verfügung stellte, und das waren die Worte.
    Matthias war derzeit der größte lebende Gelehrte des Rocaanismus und war es auch schon früher gewesen, als der Tabernakel noch von Gelehrten gewimmelt hatte. Er kannte sowohl die Ungeschriebenen als auch die Geschriebenen Worte auswendig. Er konnte den Ablauf jeder religiösen Zeremonie aus dem Gedächtnis wiedergeben und kannte die gesamte mündliche Überlieferung seines Volkes – die unverbrüchliche, mit Billigung des Tabernakels verbreitete Überlieferung.
    Erst nachdem Matthias den Tabernakel verlassen hatte, war ihm klargeworden, daß die ländlichen Gegenden der Insel eine eigenständige mündliche Überlieferung besaßen, von der er und die meisten Gelehrten noch nie gehört hatten. Wenn er diese mit seiner Kenntnis der Geheimnisse kombinierte, war er tatsächlich der größte lebende Experte des Rocaanismus.
    Aber seit er dieses geheimnisvolle Gewölbe betreten hatte, hatte er das Gefühl, überhaupt nichts mehr zu wissen. Es würde Jahre dauern, alle Geheimnisse in diesem Raum zu studieren. Matthias hatte erwartet, eine kleine Kammer vorzufinden, in der außer einer Abschrift der Worte nichts anderes aufbewahrt wurde.
    Nicht all diese Wandteppiche und Requisiten der Geheimnisse. So etwas lag nicht einmal im Tabernakel einfach so herum und auch nicht in den Geheimzimmern des Rocaan oder den Katakomben.
    Die Geheimnisse waren die Geheimnisse und wurden seit der Gründung der Religion eifersüchtig gehütet.
    Deshalb hatte Matthias immer angenommen, daß sich die Kraft der Religion auf die Geheimnisse gründete. Jetzt aber geriet er ins Grübeln.
    Waren sie vielleicht gerade deshalb so geheim, damit sie nicht angewendet wurden?
    »Hast du vor, die Worte jetzt endlich zu lesen, oder willst du sie bloß von weitem anglotzen?« knurrte Pausho unwirsch.
    Matthias zögerte. Dieses Gewölbe war für ihn eine Offenbarung. Darüber mußte er erst einmal gründlich nachdenken.
    »Welchem Zweck dient dieser Raum?« fragte er schließlich.
    »Der Beschäftigung mit der Religion«, gab Pausho zurück.
    »Und warum dürfen nur die Weisen ihn betreten?«
    »Weil wir das Vermächtnis des Roca verwalten.«
    »Das Vermächtnis des Roca«, wiederholte Matthias langsam. »Und dieses Vermächtnis befiehlt die Ermordung von Säuglingen?«
    Pausho wurde knallrot und ebenso schnell wieder bleich. »Warum mußt du dauernd darauf herumreiten?«
    »Weil man mich gelehrt hat, an einen gütigen Roca zu glauben, nicht an einen, der Unschuldige hinrichtet.«
    »Es sind keine Unschuldigen«, widersprach Pausho mit zitternder Stimme. »Wenn du mir nicht glaubst, kannst du es ja in den Worten nachschlagen.«
    »Die Worte sagen nichts über …«
    »Deine Worte vielleicht«, unterbrach ihn Pausho. »Lies die Worte jenes Mannes, den man den Roca nennt. Dann wirst du feststellen, wie sehr deine überhebliche Religion sich irrt.«
    Matthias’ Hände zitterten. »Du befolgst seine Lehren, obwohl du sie nicht in allen Punkten für gut hältst?«
    »Kein Mensch ist ausschließlich gut«, wehrte Pausho ab. »Ein Mensch ist einfach nur ein Mensch. Es liegt bei Gott, zu entscheiden, was richtig und was falsch ist.«
    »Ach ja?«
    »Lies einfach«, wiederholte Pausho.
    Matthias durfte sich nicht länger damit aufhalten, mit der Alten zu diskutieren. Jetzt war der Augenblick gekommen, auf den er so lange gewartet hatte, den er aber zugleich fürchtete. Der Fünfzigste Rocaan hatte recht gehabt; Matthias war kein Ungläubiger, wie man ihm immer vorgeworfen hatte. Er war nur zu intelligent, um Behauptungen nicht zu hinterfragen. Hinter seinen Zweifeln verbarg sich ein starker Glaube.
    Er hatte Angst, diesen Glauben jetzt zu verlieren.
    Er trat noch einen Schritt vor und blieb unmittelbar vor dem Altar stehen. Dann legte er die Hände auf den Rand, als wollte er predigen. Der Stein unter seinen Händen war warm, fast heiß, und auf seiner Oberfläche glitzerte mehr Gold, als Matthias von weitem gesehen hatte.
    Pausho ächzte und sank zu Boden.
    Matthias drehte sich nach ihr um. »Alles in Ordnung?«
    Die Alte nickte,
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