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Fey 10: Das Seelenglas

Fey 10: Das Seelenglas

Titel: Fey 10: Das Seelenglas
Autoren: Kristine Kathryn Rusch
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Jahrhunderte und Jahrtausende stetig rinnendes Wasser. Auch die Wände waren weiß und mit kostbaren Teppichen behängt. In dem seltsamen Licht schimmerte der Stoff geheimnisvoll. Das Gold leuchtete noch goldener, das Rot glühte, die Grüntöne – Matthias hatte noch nie so lebhafte Grüntöne auf einem Wandteppich gesehen – waren so frisch wie taubedecktes Gras an einem sonnigen Tag. Die Teppiche waren wie Vorhänge in gleichmäßigen Abständen über alle Wände verteilt und ließen nur an einer Wand eine Lücke frei, an der nebeneinander mehrere Korridore abgingen.
    Von einem dieser Korridore schien Matthias ein merkwürdiger Sog auszugehen.
    Er betrachtete den betreffenden Eingang genauer, aber er unterschied sich in nichts von den übrigen. Matthias fühlte nur den Drang, dem Korridor zu folgen, dort hinzugehen, wo es ihn sein Leben lang hingezogen hatte.
    Wartete Jewel etwa auch dort auf ihn?
    Pausho biß sich auf die Unterlippe. Sie wußte genau, was in ihm vorging.
    Matthias wandte den Blick von den Korridoren ab. Vor ihm ragte ein steinerner Altar auf, auf dessen Platte ein dicker Buchdeckel voller loser Seiten lag.
    Die Worte.
    Matthias war verblüfft, daß sie so offen aufbewahrt wurden und daß das Papier, obwohl es sehr alt sein mußte, wie neu aussah. Vielleicht befanden sich die ursprünglichen Worte woanders, und dieses Bündel war nur ein Symbol.
    Er zwang sich, zuerst alles andere eingehend zu mustern. Zuerst den Tisch, der für das Fest des Lebens gedeckt war und in dessen Mitte die Silberkelche blitzten wie frisch poliert. Weihwasserflaschen standen auf freistehenden Regalen, und dazwischen lagen Schwerter. Von der Decke hingen im Halbkreis die Glaskugeln für die Lichter des Mittags. Matthias war sich sicher, daß sie bei der kleinsten Berührung aufleuchten würden.
    Auf winzigen Stühlen saßen viele kleine Puppen aus mundgeblasenem Glas. Matthias lief ein Schauer über den Rücken. Noch nie zuvor hatte er Seelengefäße mit eigenen Augen gesehen. Sie gehörten zu jenen Geheimnissen, von denen ihm der Fünfzigste Rocaan lediglich erzählt hatte, ohne ihre Herkunft oder ihren Zweck zu erläutern. Die Puppen schienen leer zu sein, aber Matthias wagte nicht, sie anzufassen. Er hatte Angst, plötzlich Augen in dem leeren Glas aufblitzen zu sehen oder Gesichter, die er kannte.
    An einer Wand waren größere Flaschen aufgereiht, die eine Flüssigkeit enthielten, von der Matthias wußte, das sie angeblich das echte Blut des Roca war. Die Flaschen schimmerten rötlich. Eigentlich sollte jeder Rocaan etwas von seinem eigenen Blut abfüllen und aufbewahren, falls »die Religion ihre Kraft einbüßte«, aber soweit der Fünfzigste Rocaan erzählt hatte, hatte es bis jetzt keiner getan.
    Man hatte es nicht für nötig gehalten, denn ausschließlich das Blut des Religionsgründers besaß wundertätige Eigenschaften.
    Ähnlich verhielt es sich mit den hautbespannten Trommeln, die an einer Säule aufgehängt waren. Die Haut über den Klangkörpern war straff gespannt, und Matthias nahm an, daß die Weisen sie für die echte Haut des Roca und die gekreuzten Knochen auf der Vorderseite der Trommeln für die Knochen des Roca hielten. Matthias hatte immer Schwierigkeiten gehabt, dieses Geheimnis mit dem Gedanken der Aufnahme des Roca zu vereinbaren: Wenn der Roca wirklich aufgenommen worden war und jetzt in Gottes Hand saß, warum war dann sein Leib auf der Erde zurückgeblieben? Und wer war auf die Idee gekommen, seinen Leichnam zu zerstückeln und die Einzelteile für religiöse Zeremonien zu verwenden?
    »Du hast doch versprochen, dich zu beeilen«, mahnte Pausho.
    »Ich komme ja schon«, erwiderte Matthias, der gar nicht gemerkt hatte, daß er wie angewurzelt stehengeblieben war. An diesem Ort mußten alle Geheimnisse versammelt sein, auch wenn er nicht alle sehen konnte. Vielleicht hätte er einige davon aber auch gar nicht erkannt. Der Fünfzigste Rocaan hatte manche Geheimnisse so flüchtig abgehandelt, daß Matthias sich nur an einen einzelnen Satz, manchmal sogar nur an das Bruchstück eines Satzes, erinnerte. Als er seinerzeit nachgefragt hatte, hatte der Fünfzigste Rocaan bloß gemeint: »Mehr gibt es darüber nicht zu sagen.«
    Mehr nicht.
    Aber dieses Gewölbe war der Beweis, daß da noch mehr sein mußte. Viel mehr.
    »Die Worte«, sagte Pausho und deutete auf den Altar.
    »Ich dachte, hier würden auch Legenden und Geschichten aufbewahrt«, bemerkte Matthias.
    Pausho schnaubte. Diesen Ausdruck
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