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Feuerwasser

Feuerwasser

Titel: Feuerwasser
Autoren: Paul Lascaux
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oder will, die Kleider sich vollsaugen, der Körper abkühlt. Nur über den Augenblick des Ertrinkens weiß man glücklicherweise nichts.«
    »Ich schon«, sagte Heinrich und wurde sehr ernst. »Es war im letzten Sommer. Schon beim Hinaufwandern entlang der Aare ist mein Blutdruck abgesunken, hat sich dann aber wieder erholt. Beim Hinunterschwimmen in den kühlen Fluten habe ich mich gut gefühlt, mich auf die gegenüberliegende Seite treiben lassen, bin langsam träge geworden, nicht müde, aber sehr entspannt. Auf der Höhe der Eisenbahnbrücke in der Lorraine will ich in der Kurve gegen die Strömung auf die andere Seite zurückschwimmen, denn dort liegt weiter unten die Badeanstalt. In der Mitte des Flusses plötzliche Panik, das Bewusstsein will schwinden, mir wird übel, unter mir kein Grund, nur das Wasser treibt weiter, auf beiden Seiten 30 Meter bis zum Ufer, unendliche 30 Meter. Treiben lassen? Auf die ›falsche‹ Seite driften? Ich will schon um Hilfe rufen, es ist aber keiner in der Nähe. Dann die Kraftanstrengung, die ich mir nicht mehr zugetraut hätte. Wilde Schwimmzüge auf das Ufer zu, es kommt langsam näher, zu langsam, aber der Bewusstseinszustand verschlechtert sich nicht weiter. Drei, vier Schwimmzüge noch, ich erreiche die Uferzone, von der ich weiß, dass ich etwas weiter unten sogar stehen könnte. Der Körper beruhigt sich, ich gebe dem Wasser nach und lasse mich weiter treiben bis zum gewohnten Ausstieg. Erschöpft.«

    Eine Weile blieb es still, man hörte nur das Glucksen, das der eine oder andere Kiesel, den Leonie in die Fluten kickte, verursachte.
    »Erinnerst du dich ans letzte Hochwasser vor drei Jahren, als die Aare hier alles überflutet hat?«, fragte sie schließlich.
    »Sicher. Da wurde doch nachts um elf Sirenenalarm ausgelöst. Sonntagnacht, wenn ich mich nicht irre.«
    »Siehst du«, sagte Leonie, »so genau ist deine Erinnerung nicht. Was hast du damals gemacht?«
    »Ich saß in meinem Lesestuhl mit einem Buch in der Hand. Den ganzen Tag über hat man von hohen Pegelständen geredet, außerdem hat es drei Tage lang ununterbrochen geregnet. Deshalb hat mich die Sirene nicht beunruhigt.«
    »Aber unheimlich war es schon. Düstere Regennacht und Sirenengeheul. Man weiß ja nie, ob auch noch das altersschwache Atomkraftwerk Mühleberg leckschlägt.«
    »Ich hab dann das Radio eingeschaltet«, fuhr Heinrich fort, »wie es im Telefonbuch steht. Mehr um zu schauen, ob das Alarmsystem funktioniert. Bald kamen die Hochwassermeldung und der Hinweis, man solle die Telefonleitungen für die Rettungsdienste frei halten und niemanden anrufen. Zehn Sekunden später hat das Telefon geklingelt.«
    »Die Stadtregierung ist später auch heftig kritisiert worden, weil sie nicht nur die Flussrandgebiete, sondern die ganze Stadt mit dem Geheul aufgeschreckt hat.«
    »Das war doch das einzig Richtige. Hochwasser in der Berner Altstadt hat einen derart hohen Entertainment-Wert, dass man es der Regierung übel genommen hätte, wenn diese Tourismus fördernde Maßnahme unterblieben wäre.«
    »Und der Stadtpräsident«, ergänzte Leonie, »in lehmverkrusteten Gummistiefeln am nächsten Abend in der Tagesschau, wie er einen Sandsack am Zipfel hält.«
    Sie spazierten weiter.
    Leonie ergriff wieder das Wort: »Beim Tsunami im Indischen Ozean hat Gaia mit den Zähnen geknirscht und dann 300.000 Menschen auf einmal geschluckt.«
    »Findest du das nicht etwas pietätlos den Opfern gegenüber?«, fragte Müller.
    »Nein. Erstens hätte ich es lieber, einen Freund auf diese Art zu verlieren als durch ein von Menschen verursachtes Unglück. Und zweitens wird Mutter Erde noch ganz andere Dinge mit uns anstellen, wenn wir weitermachen wie bisher.«
    Auf der Kirchenfeldbrücke oben, wo die beiden inzwischen angekommen waren, sahen sie auf dem rechten Geländer eine Krähe. Sie blickte auf die niedrig stehende Aare hinunter, ins abendlich dunkelgrüne Wasser, während auf der anderen Seite hinter den föhngepeitschten Alpengipfeln die Sonne unterging, die letzten Wolkenfetzen von unten beleuchtete und in kitschigem Gelbrot ein postkartentaugliches Alpenglühen provozierte.
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    1 Siehe Paul Lascaux: ›Wursthimmel‹
    2 Leitfaden ›Rot. Wenn Farbe zur Täterin wird‹, Museum der Kulturen, Basel 2008

Dienstag, 9. September 2008

    Heinrich Müller und Nicole Himmel betraten gemeinsam morgens um neun den Hauptsitz der Eidgenössischen Kraftwerke EKW , aber nicht etwa durch das Prunkportal des
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