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Feuerwasser

Feuerwasser

Titel: Feuerwasser
Autoren: Paul Lascaux
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auf ihn aufmerksam zu werden. Er senkte sich bis auf wenige Meter zu ihm herab, wirbelte Steine und Staub auf, die Müller im Gesicht trafen und ihn kämpfen ließen, damit er den einschießenden Schmerz vergaß.
    Ein Arzt stieg vom Himmel, der Hubschrauber suchte weiter unten auf einer taschentuchgroßen Fläche einen vorübergehenden Landeplatz, der Doktor setzte ihm eine Schmerzmittelinfusion und erklärte mit professioneller Stimme, die Müller beruhigte und ihn vor der aufkommenden Panik bewahrte, was nun geschehen würde, fixierte das Bein, legte ihm einen Sitzgurt unter den Hintern und ließ den Helikopter wieder einfliegen.
    Ein Haken schwebte von oben heran, eine Seilwinde, die Rotoren zogen den Heli in die Luft und mit ihm die beiden Männer in ihren Tragegurten. Müller war noch immer im Zustand neben sich, einem Zustand, den er in den nächsten Tagen als Selbstschutz beibehielt. Er würde erst in dem Augenblick von ihm abfallen, als er Tage später zu Hause die Tür hinter sich schloss und mit den Krücken zum Sofa humpelte, Baron Biber auf seinen Bauch stieg, überglücklich schnurrte und die Krallen in sein Fleisch stieß. Erst da löste sich die Erstarrung, und die Tränen flossen.
    Vorerst aber gab es den Flug über die Aare-Ebene nach Bern ins Notfallzentrum des Inselspitals, eine rasche Untersuchung und eine schnelle Operation, von der er später hörte, dass er sich glücklich schätzen könne, dass er als »Bagatellfall« nicht noch einen oder zwei Tage hatte warten müssen. Dann die Rückenlagerung, kaum Platz für Bewegungen, Urinieren im Bett, Stuhlgang in Begleitung, Essen, damit wenigstens die Übelkeit verging, Tage im Schweiß der Wanderung, ungewaschen im eigenen Dreck, sodass ihm vom Geruch der Haare übel wurde und er sich wunderte, dass sich noch keine Schwärme von Schmeißfliegen auf ihm niederließen, bis man ihn am vierten Tag in eine Dusche schob und Shampoo und Seife in die Hand drückte.
    Der Geruch nach stechendem Urin und saurem Körperfett hing noch tagelang in seiner Nase, und die Arztrapporte und die Mehrfachwiederholungen für die Familienmitglieder des Unterschenkelamputierten im Nebenbett fraßen sich in Müllers Gehirn. Das Trostwort der Menschen lautete: Du hattest Glück im Unglück. Nun konnte man dem im konkreten Fall zustimmen, letztlich blieb die Bedeutung des Satzes aber unklar, denn er wurde immer wiederholt, da es stets einen noch schlimmeren möglichen Fall gab bis hin zum Tod. Müller zweifelte am Sinn dieser gut gemeinten Sätze.
    Die ganze Nacht immer wieder die Urinflasche in der Hand, kein Schlaf auf dem Rücken, das feucht geschwitzte Plastikbett, das die Haut wund scheuerte, und am frühen Morgen der freundlich lächelnde Pflegeassistent mit einem frischen Brötchen, von Händewaschen keine Rede. Wenn es nicht um sein Bein gegangen wäre, Müller hätte die Kontraste genießen können.
    Im unbekannten Draußen lärmte die Großbaustelle, drinnen staute sich die Hitze. Müller hatte sich schon immer darüber gewundert, wie jemand auf die Idee von Krankenhaus-Sex gekommen war. Es regte sich nämlich bei ihm nichts. Rein gar nichts. Die Frauen in ihren weißen und blauen Schürzen regten weder an noch auf, und selbst wenn es eine von ihnen getan hätte, so war in Heinrichs Gehirn jeder Gedanke an Geschlechtlichkeit so weit entfernt wie der Urknall von der Gegenwart. Und niemand baute einen Teilchenbeschleuniger, um diesen Gedanken näher zu kommen. Krankenhauserotik musste jemand erfunden haben, der noch kein Spital von innen gesehen hatte.
    Langsam dämmerte Müller weg. Die Wand oberhalb des Bettgestells wurde konturlos, das Bild einer unbekannten Stadt verschwamm vor seinen Augen, die Geräusche vom Nachbarbett verstummten, und die schemenhaft hin und her wuselnden Schwestern und Pflegehilfen erinnerten an Platons Höhlengleichnis. In der Höhle sitzen Gefangene mit dem Rücken zur Wand, sodass sie nur auf eine Mauer blicken können, die vom Schein eines Feuers in ihrem Rücken erhellt wird. Zwischen Feuer und Menschen werden Gegenstände vorbeigetragen, deren Schatten auf die Wand fallen. Die Gefangenen halten diese Schatten für die Dinge selbst und schelten jeden einen Lügner, der daran zweifelt. So ging es Heinrich Müller in seinem tief gelegten Bett, und er wusste nicht, waren die Menschen vor der Wand des Krankenzimmers real, oder waren sie eine Schattenwelt eigener Prägung, eine Düsterwelt, die er nicht so schnell vergessen
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