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Feuermal: Der zweite Fall für Jan Swensen

Feuermal: Der zweite Fall für Jan Swensen

Titel: Feuermal: Der zweite Fall für Jan Swensen
Autoren: Wimmer Wilkenloh
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nicht eingebracht. Azra’il war ein Hinweis auf ein Feuermal unter seinem
rechten Auge, ein Feuermal, das dem Flügel eines Engels ähnelte.
     
    Heute, am Freitag, dem 19. Juli 1974, war es endlich so weit. Aus seiner
Ausbildung wurde der Ernstfall. Den ganzen Tag hatte ein sengender Feuerball am
Himmel gestanden. Die Luft war drückend und schwer. Erst am späten Nachmittag
wurde die unangenehme Wartezeit beendet. Der Einsatzbefehl kam um Punkt 17.30
Uhr. Die Abendsonne tauchte den Hafen von Mersin bereits in ein orangerotes
Licht, als die türkische Flotte kurz vor der einbrechenden Nacht aufs Meer
hinausglitt.
    Kemal
hatte bis um 21.00 Uhr an der Reling gestanden und sehnsüchtig die
heranziehenden Wolkenfetzen beobachtet, doch der wohltuende Regenschauer blieb
aus. Im Schlafraum war die Luft zum Schneiden dick. Er konnte einfach nicht
einschlafen, warf sich gegen seine Gedanken in der Koje hin und her, so lange,
bis die Kameraden zu zischen begannen. Ab da war er noch verkrampfter, lag
bewegungslos auf dem Rücken, starrte an die graue Eisendecke und hörte auf das
Knarren im Schiffsrumpf. Endlich fiel er in ein tiefes Schwarz.
    Kurze,
knallende Geräusche rissen ihn aus dem Schlaf. Jemand polterte die Metalltreppe
herunter, eine Trillerpfeife gellte durch den engen Schlafraum. In Sekunden war
er hellwach und auf den Beinen. Seine Armbanduhr zeigte 4.00 Uhr.
    Als
er an Deck kam, fetzten kurze Befehle quer über das Schiff. Der Morgen hatte
keine Abkühlung gebracht. Im Osten kündigte ein feiner Lichtschein den nahenden
Sonnenaufgang an. Er nahm seine antrainierte Position ein und wies die
Gruppenführer an die richtigen Plätze. Immer mehr Rekruten stürmten an Deck,
die sofort in Reihen antreten mussten. Dann kam das Kommando: »Aufsitzen!« Ein
Landungsboot nahm einen Zug von dreißig Soldaten auf. Ketten rasselten über
Eisen. Mit dumpfen Schlägen klatschte ein Rumpf nach dem anderen auf die
Wasseroberfläche.
    Die
Operation Attila war jetzt in vollem Gang. Hunderte Boote, die großen,
trapezförmigen Zigarrenkisten ähnelten, schoben sich unaufhaltsam durch die
glatte See auf die Nordküste Zyperns zu. Die erste Angriffsoffensive hatte den
Auftrag, am Strand einen Brückenkopf zu errichten und eventuelle Gegenangriffe
zurückzuschlagen.
    In
einem der vordersten Boote saß Kemal. Er kauerte im hinteren Teil in einer Ecke
und hörte, wie die Wellen rhythmisch an die Eisenwand schlugen. Unaufhaltsam
kam das Ufer näher. Er lugte über die Bordwand. Steuerbord konnte man schon
eines der überdachten Förderbänder erkennen, die weit bis ins Meer hineinragten.
Damit wurden Mineralien aus den Bergwerken auf die Schiffe verladen. Kemal
kaute unwillkürlich auf seiner Unterlippe. Sein Hals brannte trocken. Er gab
dem Hustenreiz nach und kläffte dreimal laut. Hinter ihm murmelte jemand: » Allãhu
Akbar (Allah ist groß).« Von rechts schoss geräuschlos ein Düsenjäger heran
und durchbrach direkt über dem Landungsboot mit einem scharfen Knall die
Schallmauer. Im Tiefflug hielt er auf eine Siedlung am Berghang oberhalb von
Karavostási zu. Ein Rauchpilz quoll in den Himmel. Ihm folgte einige Sekunden
später der dumpfe Detonationsdonner. Kemal spürte seine feuchten Finger, die
das G3-Schnellfeuergewehr umklammerten. Von Nordwesten dröhnten mehrere
Transportflugzeuge über ihn hinweg und verschwanden in Richtung Nikosia. Die
Stahltrossen rollten mit einem metallisch zirpenden Geräusch von der Winde. Die
Rampe kippte ins Wasser. Der Sandstrand, der Five Mile Holiday Beach hieß,
lag knapp hundertzwanzig Meter vor ihnen. Am Ufer herrschte eine bedrückende
Stille.
     
    *
     
    Zum selben Zeitpunkt, in dem Kemal über die Rampe ins Wasser sprang, nahm
Jan Swensen im Schweizer Tsurphu-Tempel an der morgendlichen Meditation teil.
Erst in siebenundzwanzig Jahren würden sich die Wege der beiden Männer kreuzen.
    Nach
einer gewissen Zeit wurde die Stille für den buddhistischen Schüler zur
Nebensache. Der linke Fußknöchel hatte vor mindestens einer Viertelstunde zu
schmerzen begonnen. Erst war es nur ein fast unscheinbares Ziehen im rechten
Kniegelenk gewesen. Dem folgten ein massives Ziehen im linken Kniegelenk und
ein Stechen in der linken Wade, das an feine Nadelstiche erinnerte. Jetzt wurde
alles von dem Schmerz im linken Knöchel überlagert, einem quälenden Schmerz,
der von der Knöchelspitze in alle Richtungen ausstrahlte. Swensen versuchte,
seine Aufmerksamkeit wieder auf seinen Atem zu lenken.
    »Du
bist
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